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WADD: THE LIFE & TIMES OF JOHN C. HOLMES: Der tiefe Fall eines verlorenen Pornostars

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Wenn Mark Wahlberg als Dirk Diggler in BOOGIE NIGHTS, Paul Thomas Andersons schwelgerischem Porträt der Porno-Ära, die Hosen öffnet, ist die Welt um ihn herum baff über seine üppige Ausstattung. Es gibt ein konkretes Vorbild für diese Figur: Pornodarsteller John C. Holmes, den die Branche wegen seines 33 Zentimeter langen Penis' mit offenen Armen empfing. Er drehte ab Ende der Sechziger weit über 1000 Filme und wurde in einer Zeit zum Superstar, als die explizite Schmuddelware ihre Hochphase erlebte. Später stürzte er in die Drogenabhängigkeit und wurde kriminell, bis er 1988 an AIDS starb.

Der 1999 veröffentlichte Dokumentarfilm WADD – THE LIFE & TIMES OF JOHN C. HOLMES zeichnet die ausschweifende Karriere und das wilde Leben von Holmes nach. Benannt wurde der Film nach seiner wohl populärsten Figur: dem Privatdetektiv Johnny Wadd, den Holmes ab dem gleichnamigen Streifen aus dem Jahr 1971 in zahllosen Filmen spielte – eine Art Porno-Krimiserie, die Sex mit einer Sam-Spade-ähnlichen Hauptfigur und einigen Actionszenen verband.

Von der braven Existenz ...

Mit der Jugend von John Holmes hält sich die Doku nicht allzu lange auf, aber es dürfte keine sehr erfreuliche gewesen sein: Stiefvater Edward war ein manisch-depressiver Alkoholiker, die Familie zog mehrfach um, der spätere Stiefvater Harold vernachlässigte Holmes und seine Geschwister. Mit 16 meldete sich John Holmes freiwillig zur Armee. Mit 21 heiratete er die junge Krankenschwester Sharon Gebenini und schlug sich eine Zeitlang als Stapelfahrer durch, bis er plötzlich die Eingebung hatte, Pornos drehen zu wollen.

Eine ganze Zeitlang zeichnet WADD den Aufstieg von Holmes nach, zeigt einige (nicht explizite) Ausschnitte aus seinen Filmen und läßt diverse Weggefährten zu Wort kommen, die vor allem sein Prachtstück kommentieren – das hin und wieder auch ins Bild kommt. Kollege Richard Pacheco erklärt amüsiert, wie sich in der Arbeit mit Holmes die Damen in drei Lager spalteten: Die einen kamen ins Paradies, die nächsten sahen eher wie bei einer Untersuchung aus, bei der sie sich ständig fragten, ob es bald wehtun würde – und die letzte Gruppe verzog einfach nur qualvoll das Gesicht. "They were magical to watch, no matter what happened", grinst Pacheco.

... zum Pornostar.
Holmes soll sehr freundlich und zuvorkommend zu den Damen gewesen sein, meinen die meisten Weggefährten, und auch einige Frauen bestätigen, daß Holmes eigentlich ein herzensguter Junge war. Aber schon hier zeichnen sich Brüche im Porträt ab: Eine Darstellerin berichtet, daß er ein grobes Arschloch war, und Ex-Frau Sharon war verständlicherweise auch wenig begeistert über Holmes' neue Karriere. Sie versuchte sich mit der Situation zu arrangieren, aber machte sich dabei innerlich so krank, daß sie ihm irgendwann erklärte, daß sie körperlich nichts mehr mit ihm zu tun haben will: "I'll do your laundry, I'll be your mother, I'll be your confessor, I'll be your sister, I'll be your friend, but I don't want to be physically associated with this."

Holmes erfand Geschichten über sich, die er offenbar irgendwann selber glaubte. Er erzählte in Interviews von einem Universitätsabschluß und stellte die Behauptung auf, mit 14.000 Frauen geschlafen zu haben (was rein rechnerisch eher stressig ausfallen dürfte). Als er von der Sittenpolizei verhaftet wurde, machte er einen Deal, daß er freikommt, wenn er dafür als Informant andere Pornofilmer verpfeifen würde. Er wurde kokainabhängig und – im wahrsten Sinne des Wortes – verpulverte so sein komplettes Vermögen. Irgendwann kam er aus Geldnot mit zwielichtigen Gestalten in Kontakt, für die er als Drogenkurier arbeitete. Durch diese Verbindungen zur Unterwelt wurde Holmes 1981 in einen brutalen vierfachen Mordfall verwickelt – diese düstere Episode seines Lebens wurde 2003 in James Cox' Gangsterdrama WONDERLAND aufgerollt.

Ein Bericht über den Wonderland-Fall.

Die Abgründe fangen aber erst an: Während dieser Zeit war Holmes mit der jungen Dawn Schiller liiert, die er kennengelernt hatte, als sie 15 war. Der damals 32-Jährige verführte das Mädchen in monatelanger Werbung und drängte sie dann in eine Abhängigkeitsbeziehung – und gleich mit in die Drogensucht. Er schlug sie und prostituierte sie sogar irgendwann, um an Geld zu kommen. Erst nach fünf Jahren konnte sie sich von ihm lösen: Sie meldete ihn bei der Polizei, vor der er sich in Zusammenhang mit den erwähnten Morden seit Monaten mit ihr zusammen auf der Flucht befand.

Und auch da endet die schlimme Geschichte noch nicht. Holmes wurde freigesprochen und schaffte ein Comeback in der Pornobranche. Er lernte 1982 bei einem Dreh die junge Kollegin Misty Dawn kennen, mit der er eine Beziehung begann. 1986 wurde Holmes aber als HIV-positiv diagnostiziert – und weil er damit in Amerika nicht mehr arbeiten konnte, nahm er ein Angebot aus Italien an und drehte dort trotz seiner Krankheit noch weitere Filme. Glücklicherweise steckte er niemanden an.

Pornodarstellerin Misty Dawn wurde Holmes' zweite Frau.
Was ein reißerisches Abtauchen in die Untiefen der Pornoindustrie hätte werden können, wird bei Regisseur Cass Paley zu einem durchaus differenzierten Porträt. Seine größte Bank ist wohl, daß er sowohl Holmes' erste Frau Sharon als auch Dawn Schiller interviewen konnte. Beide berichten eindringlich und, soweit man das beurteilen kann, aufrichtig – und obwohl beide im Dunkeln sitzen und ihre Gesichter nicht richtig erkennbar sind, ist doch eine gewisse Traurigkeit in ihren Erzählungen spürbar.

Überhaupt schwingt diese Wehmut bei vielen Gesprächspartnern mit, ob bei Holmes' Familie oder seinem Manager Bill Amerson: Egal, wie tief Holmes sank und wie verwerflich seine Handlungen wurden, sein Umfeld hatte offenbar das Gefühl, auch den Mensch hinter dem Monster gekannt zu haben. Vielleicht glaubten sie auch, ihn nach all den schlimmen Geschehnissen gewissermaßen zurückholen zu können.

WADD – THE LIFE & TIMES OF JOHN C: HOLMES erzählt die tragische Geschichte eines Menschen, der glaubt, der Welt nur einen einzigen Wert anbieten zu können: einen langen Penis. Seine Fans hat ihn dafür gefeiert. Er selbst dürfte sich kaum gemocht haben.





Wadd: The Life & Times of John C. Holmes (USA 1999)
Regie: Cass Paley
Buch: Rodger Jacobs
Kamera: Willie Boudevin
Musik: Brad Raylius Daniel, Tad Dery
Darsteller: Bill Amerson, Paul Thomas Anderson, Ron Jeremy, Bob Chinn, Misty Dawn, Larry Flynt, Al Goldstein, Annette Haven, Sharon Holmes, Dawn Schiller, John Leslie, Sharon Mitchell, Kitten Natividad, Richard Pacheco, Bob Vosse, Kenneth Turan, Cicciolina

Die Doku ist als Bonus bei der Doppel-DVD-Edition von WONDERLAND enthalten.
Alle Screenshots stammen von der deutschen DVD (C) 2005 Paramount Pictures.

SHAFT: Ein schwarzer Held erobert das weiße Actionkino

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Die Kamera schwebt über dem Times Square und taucht dann in die Straßen ein, beobachtet das Treiben auf der 42nd Street mit ihren zahlreichen Kinos – manche bewerben Filme wie den Burt-Lancaster-Western MIT EISERNEN FÄUSTEN, andere zeigen Sexstreifen wie HE AND SHE. Auf dem Soundtrack zischen plötzlich Hi-Hats einen unnachgiebigen Funk-Rhythmus, Wah-Wah-Gitarren treiben schnalzend das Tempo voran – und dann steigt ein schwarzer Mann mit braunem Ledermantel und beigem Rollkragenpullover die Stufen einer U-Bahn-Station empor. Die Kamera wechselt in eine Untersicht und zeigt sein ernstes Gesicht als Heldenporträt. Es ist die Geburt von John Shaft, der das Actionkino an sich reißen wird.









SHAFT war 1971 der Film, der das schwarze Kino zur Sensation machte. Ossie Davis und Melvin van Peebles hatten zuvor den Grundstein gelegt, ersterer mit der Cop-Komödie WENN ES NACHT WIRD IN MANHATTAN, letzterer mit dem kontroversen Actiondrama SWEET SWEETBACKS LIED. Beide zeigten, daß es ein Publikum gab für Filme von und mit Schwarzen, und daß die sich die so klassisch mit Weißen besetzten Erzählmuster mit Witz, Wut und jeder Menge Energie zu Eigen machen würden. Nicht umsonst übertrumpft SHAFT in seinem Trailer die ehrwürdigen weißen Kollegen: "Hotter than Bond, cooler than Bullitt."

John Shaft ist ein harter Privatdetektiv in der Tradition von Sam Spade, der als Einzelgänger nach seinem eigenen Kodex lebt. Der schwarze Gangsterboss Bumpy Jonas heuert ihn an, seine entführte Tochter zu finden, und damit gerät Shaft in den Krieg zwischen einer Gang aus Harlem und der italienischen Mafia, die das Terrain für sich haben will. Gemeinsam mit dem Revoluzzer Ben Buford, einem alten Bekannten von ihm, stellt er eine kleine Privatarmee zusammen, um Bumpys Tochter aus den Händen der Mafiosi zu befreien.

Gangsterboss Bumpy Jones (Moses Gunn, Mitte) heuert Ben Buford (Christopher St. John, links)
und Shaft (Richard Roundtree) an, um seine Tochter zurückzuholen.
Regisseur Gordon Parks, der als Photograph mit seinen Dokumentationen des Lebens der schwarzen Bevölkerung Amerikas bekannt wurde, nutzt den Krimiplot beinahe als Fortführung dieses Ansatzes: Er sieht dorthin, wo das Hollywood-Kino sonst nie einen Blick riskierte. Er zeigt die Straßen der wenig glamourösen Viertel, die heruntergekommenen Häuser, die einfachen Läden. Über eine lange Montage, in der Shaft sich durch die Nachbarschaft nach dem Aufenthaltsort von Buford fragt, singt Isaac Hayes: "Any kind of job is hard to find / That means an increase in the welfare line / The crime rate is rising, too, but / If you are hungry, what would you do?"

Und doch ist der Tonfall hier keinesfalls resigniert – ganz im Gegenteil. Shaft ist wie eine Ikone des schwarzen Selbstbewußtseins; jede Begegnung mit ihm ist eine Konfrontation, in der er sich die Oberhand erkämpft. Ob ihn weiße Polizisten befragen wollen oder ihm ein schwarzer Gangsterboss droht, Shaft lässt sich nie einschüchtern und verweist sein Gegenüber auf seinen Platz. Wenn ihm der Kommissar anschafft: "Have a chair, John", setzt Shaft sich demonstrativ auf den Schreibtisch: "I don't like your chair". Ganze Legionen von Hip-Hoppern könnten sich von John Shaft abschauen, wie man den harten Platzhirsch von der Straße mimt, ohne je in plumpe Proll-Posen zu verfallen.

Shaft (Richard Roundtree) und seine Eroberung Linda (Margaret Warncke).

Am provokativsten zeigt sich dieses neue schwarze Selbstbewußtsein in einer Sequenz, in der Shaft in einer Bar von einer weißen Frau erspäht wird, die offensichtlich Gefallen an ihm findet. In der nächsten Szene ist die Frau schon bei ihm zuhause und legt sich auf sein Bett. Die Beiläufigkeit, mit der diese Eroberung stattfindet, dürfte die Empörung seinerzeit noch gesteigert haben – immerhin reden wir von einer Zeit, in der die Rassentrennungsgesetze erst sieben Jahre zuvor abgeschafft wurden, und in der das Bild eines schwarzen Mannes mit einer weißen Frau somit immer noch gewaltige Sprengkraft besaß. Daß Shaft im Film gleich mehrere Freundinnen hat, mag man dabei übrigens als Macho-Phantasie werten, aber eigentlich ist das nur eine Fortführung des Prinzips, mit dem SHAFT sich der Muster weißer Kinohelden bemächtigt: Wenn James Bond zahlreiche Frauen erobern kann, kann ein Mann wie John Shaft erst recht mehrere Ladies in Warteposition haben.

Das Spannende an SHAFT ist nicht die Handlung, und es ist nicht einmal die Action, die immer wieder hervorbricht. Es ist alles darunter, davor, danach, dazwischen, was den Film so aufregend macht. Und wenn man genau hinsieht, merkt man, dass diese schwarze Eroberung des weißen Kinos an genau diesen Trennlinien und Schubladen gar nicht interessiert ist: In einer Szene hält der Polizeichef einen schwarzen Stift neben Shafts Gesicht und meint: "You ain't so black." Der hält umgekehrt seine weiße Kaffeetasse zum Vergleich hoch und kontert: "And you ain't so white either, baby."

"You ain't so black" ...

... "And you ain't so white either, baby."

Mehr SHAFT auf Wilsons Dachboden:
LIEBESGRÜSSE AUS PISTOLEN: Mehr Shaft, weniger Shaft
SHAFT IN AFRIKA: Ein schwarzer Bond beendet die Sklaverei





Shaft (USA 1971)
Regie: Gordon Parks
Buch: Ernest Tidyman, John D.F. Black
Kamera: Urs Furrer
Musik: Isaac Hayes
Darsteller: Richard Roundtree, Moses Gunn, Charles Cioffi, Christopher St. John, Gwenn Mitchell, Sherri Brewer, Drew Bundini Brown

LIEBESGRÜSSE AUS PISTOLEN: Mehr Shaft, weniger Shaft

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"You liked it before, so he's back with more", tönt es vom Plakat: Ein Spruch, mit dem sich so ziemlich jede Fortsetzung selbstbewußt ankündigen könnte (abgesehen vielleicht von HALLOWEEN III). Nachdem SHAFT 1971 bei nur $500.000 Produktionskosten $13 Millionen einspielen konnte und mit Isaac Hayes' Titelsong einen wegweisenden Nummer-Eins-Hit abwarf, mußte schnell eine Fortsetzung her. Wie praktisch, daß sich die Hauptfigur John Shaft gleich sowohl als Privatdetektiv im klassischen Roman-Serienstil als auch als Bond-ähnlicher Superheld vorgestellt hatte: So einen Mann kann man problemlos immer wieder in neue Fälle und Abenteuer stürzen. Und so startete schon im Juni 1972 mit SHAFT'S BIG SCORE! (bei uns LIEBESGRÜSSE AUS PISTOLEN) eine Fortsetzung, die "back with more" ist und doch weniger bietet.

Wieder gerät Shaft ins Kreuzfeuer zweier rivalisierender Banden: Ein Freund von Shaft, der eine praktische Verbindung aus Bestattungsunternehmen und Versicherungsgesellschaft führt, wird von seinem Geschäftspartner John Kelly umgebracht. Der spielsüchtige Mörder schuldet dem Gangsterboss Mascola Geld und wollte ihn mit dem von der Firma erwirtschafteten Geld ausbezahlen, aber das wurde in weiser Voraussicht versteckt. Weil Kelly versucht, das Geld stattdessen vom rivalisierenden Gangsterboss Bumpy Jonas zu holen und ihm dafür ebenso wie Mascola die Hälfte der Firma versprochen hat, treten nun mehrere Parteien auf den Plan, die allesamt bereit sind, für das Geld über Leichen zu gehen.

Kelly (Wally Taylor, links) macht einen Deal mit Gangster Mascola (Joseph Mascolo) ...

Man merkt LIEBESGRÜSSE AUS PISTOLEN den Erfolg seines Vorgängers an: Der Film ist weit aufwendiger gestaltet als noch der erste SHAFT. Die Breitleinwand-Bilder sind stimmungsvoll ausgeleuchtet, die Kamera gleitet sorgfältiger durch die Szenen – und die Actionsequenzen wurden immens aufgerüstet. Schon im ersten Teil trat Shaft als schwarzer Über-Bond auf, was Haltung und Lässigkeit anging, aber die Geschehnisse blieben bodenständig und mit roher Direktheit inszeniert. Das Budget erlaubte nicht viel, die Action spielte sich nur in kurzen Ausbrüchen auf beengtem Raum ab. Diesmal dagegen wird Shaft mit spektakulärem Finale zum tatsächlichen Bond, der sich quer durch die Stadt eine wilde Autoverfolgungsjagd und eine Hetzjagd mit zwei Männern in einem Helikopter liefert.

Als Eskapismus funktioniert der Film somit weit geschmeidiger als der erste Teil – vor allem die letzten zwanzig Minuten bieten mitreißenden Thrill. Aber auch sonst findet Regisseur Gordon Parks immer wieder Gelegenheit, sein Photographengespür spielen zu lassen – sei es bei einer Schießerei auf einem schneebedeckten Friedhof oder in einer Kneipe, wo Shaft zusammengeschlagen wird, während zwei kostümierte Frauen hypnotisch tanzen. Auch Richard Roundtree geht erneut in der Hauptrolle auf und liefert mit jedem Blick eine kraftvolle Auseinandersetzung mit seinem Gegenüber.

... und einen zweiten mit dem rivalisierenden Gangster Bumpy Jonas (Moses Gunn, links, mit Drew Bundini Brown).

Aber bei allem, was hier mehr aufgefahren wird, fallen doch alle anderen Aspekte des Erstlings komplett beiseite. In SHAFT nutzte Parks den nicht immens packenden Plot dafür, soziale Wirklichkeiten anklingen zu lassen, Eindrücke von den Reibungen zwischen Schwarz und Weiß zu zeigen, und ein Territorium zu erobern, auf dem Schwarze zuvor nur als Nebenfiguren agierten. In LIEBESGRÜSSE AUS PISTOLEN ist von all dem nichts mehr zu spüren. Das Subversive des ersten Films ist hier schon dem reinen Oberflächenspektakel gewichen.

Dem fällt vor allem die realistische Erdung der Figuren zum Opfer. Shaft wird nicht mehr wie Sam Spade im spartanisch eingerichteten Büro aufgesucht, sondern gleich aus dem Bett geklingelt, wo er sich gerade wie Bond mit einer Schönheit vergnügt. Der fast durchgehend in Brauntönen gehaltene raue Straßen-Look des Vorgängers ist einer farbenfroheren Hochglanz-Version gewichen. Auch die leisen Zwischentöne sind Vergangenheit: In SHAFT durfte beispielsweise der skrupellose Gangsterboss Bumpy Jonas noch eine menschliche Seite zeigen, als er sich ganz ernsthaft um seine Tochter sorgte: "I can always get more money. I only got one baby." (Der Satz funktioniert als Spiegel zum weit zynischeren Sam-Spade-Vorbild DIE SPUR DES FALKEN, wo der Gauner Gutman seinen Ziehsohn für die wertvolle Falkenstatue verrät: "If you lose a son, it's possible to get another. There's only one Maltese Falcon.") In LIEBESGRÜSSE AUS PISTOLEN existiert Bumpy nur noch für den Plot. Das betrifft sogar John Shaft selber: Im ersten Film gab er noch einem Jungen auf der Straße Geld für Essen, aber hier entfällt durch das Ausklammern der realistischen Welt auch jede Möglichkeit, zu zeigen, wie er zu dieser steht.

Kuscheliger als ein schnödes Büro: Shaft (Richard Roundtree) nimmt seinen neuen Auftrag im Bett an.

Immerhin kann man die pure Existenz der Figur John Shaft im Jahr 1972 noch als politisches Zeichen werten. "Ghetto kids were coming downtown to see their hero, Shaft, and here was a black man on the screen they didn't have to be ashamed of", erzählte Gordon Parks 1972 im Interview mit Roger Ebert. "We need movies about the history of our people, yes, but we need heroic fantasies about our people, too. We all need a little James Bond now and then." Interessanterweise waren diese schwarzen Bond-Phantasien so erfolgreich und sprachen mit ihrem immensen Selbstbewußtsein den Zeitgeist so stark an, daß der "echte" Bond im darauffolgenden Jahr mit LEBEN UND STERBEN LASSEN selber nach Harlem kam und dort in ein schwarz geprägtes Abenteuer stolperte.

So gesehen sind SHAFT und LIEBESGRÜSSE AUS PISTOLEN zwei Seiten derselben Münze: Beide präsentieren ihren selbstbewußten schwarzen Helden als Statement einer Gesellschaft im Umbruch. Der erste Teil setzt ihn in eine realistische Umgebung und lässt ihn dort anecken, im zweiten ist er eine Selbstverständlichkeit – weil es eigentlich keine Frage sein sollte, welche Hautfarbe er überhaupt hat. Vielleicht mußte er gerade deswegen 1972 in einer von der tristen Wirklichkeit befreiten Filmwelt leben.


Mehr SHAFT auf Wilsons Dachboden:
SHAFT: Ein schwarzer Held erobert das weiße Actionkino
SHAFT IN AFRIKA: Ein schwarzer Bond beendet die Sklaverei





Liebesgrüße aus Pistolen (USA 1972)
Originaltitel: Shaft's Big Score!
Regie: Gordon Parks
Buch: Ernest Tidyman
Kamera: Urs Furrer
Musik: Gordon Parks
Darsteller: Richard Roundtree, Moses Gunn, Drew Bundini Brown, Joseph Mascolo, Kathy Imrie, Wally Taylor, Julius W. Harris, Rosalind Miles

SHAFT IN AFRIKA: Ein schwarzer Bond beendet die Sklaverei

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"Wait a minute", schraubt John Shaft an einer Stelle von SHAFT IN AFRIKA die Erwartungen seines Gegenübers herunter. "Now, I'm not James Bond. Simply Sam Spade." Man muß diese Tiefstapelei als Ironie werten: Im dritten SHAFT-Film ist von dem Privatdetektiv Spade in der Hauptfigur nichts mehr übrig, stattdessen wird ein vollwertiges Bond-Abenteuer geboten – komplett mit Oberschurke, exotischer Kulisse, ausgefallenen Nebenfiguren und aufregender Cartoon-Gewalt.

Schon der zweite SHAFT-Film ließ den Realismus des ersten hinter sich, spielte aber immer noch vor einer Kulisse heimischer Gangstermachenschaften: Drogen, Glücksspiel, Geld. In SHAFT IN AFRIKA, diesmal nicht mehr von Photograph Gordon Parks, sondern vom britischen Regisseur John Guillermin inszeniert, begnügt sich Shaft aber nicht damit, zwischen rivalisierenden Banden einen kühlen Kopf zu bewahren – nein, er darf gleich einen internationalen Ring von Sklavenhändlern ausheben, der Schwarze von Afrika nach Paris bringt und sie dort zu Niedrigstlöhnen schuften läßt. Shaft wird von einer Bande in New York entführt, die ihm eröffnet, daß er in Afrika als Undercover-Agent eingeschleust werden und dabei helfen soll, die Drahtzieher hinter dem menschenverachtenden Geschäft zur Strecke zu bringen. Damit stellt sich Shaft einer Mission, in der alles überlebensgroß ist – inklusive einem turmgroßen Handlanger des Auftragsgebers, der mit Vorliebe die Türen so eintritt, daß sie komplett aus den Angeln fliegen.

Überhaupt ist hier alles so auffällig und übertrieben, daß man immer wieder an die bunten Seiten einer atemlosen Comic-Erzählung denken muß. Schon zu Beginn wird Shaft mit Betäubungspfeilen außer Gefecht gesetzt und wacht nackt in einem mit Sand gefüllten Raum auf, der durch Lampen unmenschlich erhitzt wird. Per Sprechanlage wird ihm angekündigt, daß er hier acht Stunden lang marschieren soll – aber der clevere Shaft deckt sich stattdessen mit dem Sand zu, damit er keinen Hitzeschlag erleidet. Der Sprecher lobt ihn für seinen Einfallsreichtum – und erklärt ihm daraufhin, daß es nur ein Test gewesen sei, um herauszufinden, ob er für die schwierige Aufgabe, für die er vorgesehen ist, überhaupt geeignet ist.

Drahtzieher Amafi (Frank Finlay) und seine Gespielin Jazar (Neda Arneric).

In diesem Tonfall geht es weiter: Shaft kriegt als einzige Waffe einen Stecken – der aber innen eine kleine Kamera versteckt hat. Am Flughafen von Paris wird er von einem als Putzfrau verkleideten Attentäter angegriffen. Sein Kontaktmann in Afrika ist ein Mann, bei dem man sich auf offener Straße mit einem lebendigen Löwen photographieren lassen kann. Und ganz zum Schluß darf das Hauptquartier des Schurken Amafi gesprengt werden.

Der ist, ganz nach Bond-Tradition, ein hochkultivierter Mann – und gleichzeitig dezent pervers bzw. sexuell beeinträchtigt. Seine Gespielin ist eine blonde junge Frau, die sich beim Anblick der arbeitenden schwarzen Sklaven erregt über den Körper streicht, was ihn fasziniert. Später sagt er über sie: "I don't love this young lady. I don't even particularly like her. But she's the only person in the world I've ever found who can get it up for me." Dem steht der männlich-virile Held Shaft gegenüber, der die Frauen mit seiner Liebeskraft sogar von törichten Vorhaben abbringen kann.

Shaft (Richard Roundtree) hat Zeit für ein paar schöne Stunden mit seiner Assistentin (Vonetta McGee) ...

Vom Kollegen Bond stammt auch der flapsige Witz. In den vorigen Teilen gab Shaft schon gerne seinem Gegenüber dumme Antworten, die aber mehr Provokation und Machtkampf waren als tatsächliche Pointen. Diesmal darf er dem Geschehen von vorne bis hinten mit Schnodderschnauze begegnen: Auf die Frage seines Auftraggebers, wo er gelernt hat, mit dem Stock zu kämpfen, antwortet Shaft: "Conducting the New York Philharmonic." Als ihm eine Frau eröffnet, daß er ihr erster richtig guter Liebhaber war, meint er: "Fantastic, baby. Write my Congressman later." Und als ihm in Afrika eine Prostituierte ihre Brüste unter die Nase hält, kommentiert Shaft: "No wonder they call Africa the mother country."

Es ist bemerkenswert, wie sehr Shaft hier nach allen Regeln des Bond-Films inszeniert wird – vor allem, nachdem Bond im selben Jahr mit LEBEN UND STERBEN LASSEN auf das Terrain kam, das SHAFT mitbegründet hatte: Das schwarze Kino war mittlerweile ein so erfolgreicher Trend, daß sich eine Mainstream-Filmreihe daran orientierte. Umgekehrt war Shafts Bond-ähnliche Qualität schon im ersten SHAFT vorhanden – definitiv im Hinblick auf seine Männlichkeit und sein Selbstbewußtsein.

... und für die durchtriebene Jazar (Neda Arneric).

SHAFT IN AFRIKA ist wie schon sein Vorgänger hauptsächlich als abwechslungsreiches Vergnügen zu sehen, das mit dem sozialen Realismus des ersten Films nicht mehr viel am Hut hat. Dennoch gibt sich der Film in manchen Momenten tatsächlich wieder etwas politischer als LIEBESGRÜSSE AUS PISTOLEN: Daß Shaft ins "Ursprungsland" Afrika reist, um dort sinnbildlich die Sklaverei zu beenden, hat durchaus etwas mit dem Auftrag dieser schwarzen Kinobewegung zu tun. In einer eindringlichen Szene stellt Shaft einen französischen Polizisten wütend zur Rede, daß die Bequemlichkeit der Gesellschaft solche Ausbeutung mit ermöglicht: "Why don't you really clamp down on the slave trade? I'll tell you why. Because the black ghettos of Paris is as far away from the Champs Elysees as 125th Street is from Park Avenue! You need a bunch of poor bastards to work on your roads and your god damn kitchens!" Und zum Schluß wird SHAFT IN AFRIKA zur symbolischen Rachephantasie, als die befreiten Sklaven über den skrupellosen Amafi herfallen und ihn in einem Brunnen ertränken. Es ist wie auf den Kopf gestellte Lynchjustiz.

Bemerkenswert ist vor allem die Tatsache, daß der Film die in Afrika weit verbreitete Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung kritisiert: Die Shaft zur Seite gestellte Assistentin kündigt an, daß ihr diese Prozedur bald bevorsteht – und sie sieht dem durchaus positiv entgegen, weil es eben ein altes Ritual sei. Erst, nachdem Shaft sie verführt hat, kommt sie von dem Vorhaben ab. Daß es einen potenten Mann braucht, um diesen Sinneswandel einzuläuten, ist natürlich ebenso ganz im Sinne des Bond-Musters und sollte daher nicht überbewertet werden – interessant ist, daß hier überhaupt davon gesprochen und damit Bewußtsein geschaffen wird, nachdem die Praxis meist unter den Teppich gekehrt wird.

Leider konnte SHAFT IN AFRIKA seine Produktionskosten im Gegensatz zu den Vorgängern nicht wieder einstellen, weshalb die Figur ins günstigere Fernsehen geschickt wurde: Von Oktober 1973 bis Februar 1974 löste John Shaft in einer TV-Reihe sieben 90-Minuten-Fälle, die aber viel handzahmer als die Kino-Trilogie gestaltet war. Erst im Jahr 2000 tauchte er wieder auf, um das Heldenzepter an seinen von Samuel L. Jackson gespielten Neffen zu übergeben – und angesichts der Wandlungen, die die Reihe bis dahin durchgemacht hatte, ist es wohl keine Überraschung, daß man sich schon in den Vorbereitungen über Tonfall und Inhalt uneinig war …


Mehr SHAFT auf Wilsons Dachboden:
SHAFT: Ein schwarzer Held erobert das weiße Actionkino
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Shaft in Afrika (USA 1973)
Originaltitel: Shaft in Africa
Regie: John Guillermin
Buch: Stirling Silliphant
Kamera: Marcel Grignon
Musik: Johnny Pate
Darsteller: Richard Roundtree, Frank Finlay, Vonetta McGee, Neda Arneric, Jacques Herlin

WINZER: Eiswein oder Ausguß?

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"Ein paar Penner brechen in Ihr Lagerhaus ein und vertrinken 8% Ihres Weinbestandes", werde ich informiert. Gar nicht ohne, was da vernichtet wird: Ich hatte 6845 Flaschen Wein, also müssen die Einbrecher mir 547,6 Liter weggesoffen haben. Entweder waren es sehr viele Penner, oder ihre Leberkapazitäten verdienen Respekt.

Zum Glück handelt es sich nur um ein Zufallsereignis in einem Spiel: In der Wirtschaftssimulation WINZER aus dem Jahr 1991 schlüpft man in die Rolle eines Weingutleiters und darf sich um Herstellung und Vertrieb von möglichst hochqualitativen Weinen kümmern. Insgesamt vier Spieler treten an – und wer nicht genug Mittrinker findet, darf gegen namenlose Computergegner kämpfen.

Malerisch ist's in der Rheinpfalz. In Württemberg, Franken und Hessen sieht es übrigens genauso aus.

Das Spiel beginnt im Januar 1970, jeden Monat dürfen sich die Spieler rundenweise um ihren Betrieb kümmern. Das fängt damit an, daß man Anfang des Jahres seine zehn Hektar Land mit den entsprechenden Reben bepflanzt oder eingegangene nachkauft, den Weinberg düngt, Erntemaschinen besorgt oder wartet, genug Mitarbeiter einstellt, Lagerplatz bereitstellt und genug leere Flaschen besorgt, um den Spitzenwein später auch abfüllen zu können.

Dann heißt es abwarten: Wie die Reben gedeihen, bestimmen Wetter und Glück. Manche Weinsorten wachsen in bestimmten Anbaugebieten besser als anderswo: Der Riesling fühlt sich in Württemberg wohl, der Burgunder dagegen in Franken. Bange darf man beobachten, wie die Trauben reifen und welche Oechslewerte sie erreichen – das ist der Zuckergehalt der Trauben. Heißes, trockenes Klima sorgt für höhere Oechslewerte, und die wiederum sorgen für höhere Qualität beim Wein.

Ab dem Herbst werden die Trauben gelesen und gekeltert, später müssen die Weine angemeldet und können dann in Flaschen abgefüllt werden. Die Weine können auf regionalen und internationalen Märkten angeboten werden, wobei man für letztere Option kostspielige Handelsverträge abschließen muß. Die Preise schwanken gewaltig, weshalb es sinnvoll sein kann, einen Wein eine ganze Zeitlang zu behalten. Wer in Geldnot gerät, kann auch bei der Bank einen Kredit aufnehmen - aber wer die Raten nicht zurückzahlen kann, wird irgendwann enteignet.

Die Übersicht zum Weinberg: Der Burgunder verspricht dank hohen Oechslewerts eine Auslese zu werden.

Ganz so routiniert, wie das klingt, läuft das Spiel vor allem zu Beginn nicht. Zunächst mal gilt es, die verschiedenen Qualitätsstufen der Weine zu durchschauen: Bei niedrigem Oechslewert wird es ein Tafel- oder Qualitätswein, darüber gibt es einen Kabinettwein, eine Spätlese, eine Auslese, eine Beerenauslese oder sogar eine Trockenbeerenauslese – die aber teils nur mit den reifen, teils nur mit den überreifen Trauben hergestellt werden können und mitunter auch der Edelfäulnis bedürfen. Im Zweifelsfall kann man den Traubenmost panschen, also für einen höheren Oechslegrad anzuckern – aber nachdem regelmäßig ein Prüfer ins Haus schaut, kann das kostspielig werden. Ganz mutige Winzer können auf Nachtfröste im November und Dezember hoffen, um einen Eiswein herstellen zu können – aber meistens spielt das Wetter nicht mit und die Trauben verderben.

Je besser die Qualität, desto bessere Preise kann man erzielen – aber manche der vornehmen Weine müssen erst eine Zeitlang lagern, bevor sie verkauft werden können. Eine Silvaner-Auslese muß ein halbes Jahr im Keller liegen, der Trollinger-Eiswein braucht ganze drei Jahre. Weil der Betrieb jeden Monat Geld frißt, muß man also auch Weine für den schnellen Verkauf produzieren, und den am besten in rauen Mengen. Dafür eignet sich ein Federweißer gut, aber der darf nicht länger als zwei Monate lagern. Im Zweifelsfall kann man aus einem Wein auch noch einen Sekt herstellen.

Beim Keltern: Hoffentlich reichen 17470 Liter Speicherplatz für den ganzen Wein.

Es ist gerade beim Einstieg ins Spiel nicht unüblich, komplette Ernten versehentlich zu vernichten. Wer die geernteten Trauben nicht im selben Monat keltert, dürfte in der nächsten Runde ein langes Gesicht machen – aber manchmal stellt sich auch heraus, daß man gar nicht genug Lagerplatz für die vielen Liter Wein hat, weswegen das edle Gesöff recht unelegant im Ausguß verschwindet. Und natürlich ist Lagerplatz genau dann am teuersten, wenn man ihn braucht.

Eine Reihe von Zufallsereignissen macht die Angelegenheit nicht einfacher. Die oben angesprochenen Einbrecher können einem schon mal eine ganze Menge Wein stehlen, teilweise ruinieren einem Unwetter die Trauben, oder die Erntemaschinen landen im Graben und müssen für teures Geld wiederhergestellt werden. Manche Geschehnisse sind dabei allerdings auch höchst amüsant: Offenbar zieht sich jeder Winzer früher oder später den Zorn des Nachbarn zu, der einem dann mit dem Traktor das Auto rammt – wofür man eine Versicherungsprämie kassiert. Das ist nicht nur herzig, weil das Ereignis immer wieder auftritt und man meinen könnte, dem lieben Herr Nachbar würde irgendwann einmal der Führerschein entzogen werden, sondern auch, weil man das Versicherungsgeld quasi geschenkt kriegt – und das neue Auto offenbar gleich dazu.

Im Laufe der Zeit bekommen die Spieler Punkte, und wer als erstes die 1000 erreicht, hat gewonnen. Am ertragreichsten sind dafür die jährlichen Weinwettbewerbe, bei denen man seinen schönsten Qualitätswein vorstellen kann – sofern das nicht gepanschte Plempe ist oder man aus Geldnot schon die noble Auslese verscherbeln musste. Wer dem Niedergang des Gegners etwas nachhelfen möchte, kann sich für teures Geld in die Unterwelt begeben – das ist offenbar wie ein Club mit ganz vornehmen Eintrittspreisen – und dort eine Sabotage anstiften. Gemein ist dabei vor allem eine Fälschung der Kellerbücher, da das Opfer seine korrekt eingetragenen Weine nicht von den verpfuschten unterscheiden kann und vor der nächsten Inspektion sicherheitshalber alles schnell verkaufen sollte.

Mit steigender Punktzahl wird man befördert: Ministerialrat macht sich sicher gut auf dem Lebenslauf.

Die Grafik von WINZER ist sparsam und wenig abwechslungsreich – offenbar lässt sich jeder Winzer sein Haus und sein Weingut nach strengen EU-Normen einrichten. Gleiches gilt für die Musik: In Dauerschleife dudelt eine Melodie vor sich hin, die es irgendwie schafft, selbst nach Stunden keine Aggressionen zu fördern, aber eben auch nie auf einzelne Spielsituationen eingeht. Oft wünscht man sich die eine oder andere Komfortfunktion in den Menüs, aber als Wirtschaftssimulationsveteran gehört es ja beinahe zum guten Ton, sich die Materie auch in dieser Hinsicht etwas erarbeiten zu müssen.

Einzelspieler dürfte WINZER nur so lange bei Laune halten, bis sie die Spielmechanik gemeistert haben – sobald der Betrieb halbwegs läuft, bleiben größere Überraschungen irgendwann aus. Ab zwei Personen ist das Spiel gegeneinander aber ein Vergnügen – vor allem, wenn der andere mal wieder vergisst, seine Ernte zu keltern, und mit wehmütigem Blick an viele tausend Trauben denkt. Außerdem kann man gemeinsam rätseln, wie viele Penner es braucht, um 547,6 Liter Wein wegzusaufen. In diesem Sinne: Prost!


Vielen Dank an Erhard Furtner für die Screenshots.

PRISONERS: Von Tätern und Opfern

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In einer kargen Schneelandschaft bahnt sich ein Reh den Weg durch die Bäume. Ein Gewehr ist am Bildrand zu sehen, ein Gebet wird gemurmelt, dann streckt ein Schuß das Tier nieder. In DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN war die Jagd noch ein erhabenes Ritual, eine Art Selbstfindung, die dann die Bedeutung verliert, als die Protagonisten auf die Schrecken des Krieges treffen. In PRISONERS ist es eine trostlose Vorbereitung auf Schlimmeres: Überlebensfanatiker Keller Dover (Hugh Jackman) bringt seinem Sohn bei, wie man vorbereitet sein muß, wenn die Zivilisation den Bach heruntergeht.

Er selber wird Teil dieses Niedergangs sein. Als zu Thanksgiving seine kleine Tochter und die des benachbarten Freundes Franklin (Terrence Blanchard) entführt werden, faßt die Polizei einen geistig zurückgebliebenen Mann (Paul Dano), der an diesem Tag mit seinem Wohnmobil in der Gegend gesichtet wurde. Beweise für einen Zusammenhang gibt es nicht, weshalb die Polizei ihn laufen läßt – aber Keller ist überzeugt, daß dieser Mann der Täter ist, weshalb er ihn entführt und mit Gewalt ein Geständnis aus ihm herausgepressen will.


"Two little girls have got to be worth whatever little rule you gotta break to keep that asshole in custody", erklärt Keller dem Polizisten Loki (Jake Gyllenhaal) schon zu Beginn der Ermittlungen: Wer auf der richtigen Seite steht, kann im Notfall alle Regeln brechen. Nach und nach zieht Keller auch sein Umfeld in den verzweifelten Kreuzzug gegen das Böse: Franklin zweifelt an der Richtigkeit von Kellers Plan, läßt sich von dessen aufgebrachter und ohnmächtiger Wut mitreißen. Franklins Frau Nancy deckt lieber den Mantel des Schweigens darüber: Sie will nicht bei der Folter mitmachen, aber erklärt ihrem Mann, daß sie Keller alles Nötige tun lassen werden. Kellers eigene Frau Grace betäubt ihren Kummer mit Tabletten und fragt sich kein einziges Mal, wohin ihr Mann jede Nacht verschwindet.

"He stopped being a person when he took our daughters", rechtfertigt Keller seine drastischen Maßnahmen. Die politischen Parallelen dieser ganz und gar persönlichen Tragödie sind klar: Auch in unserer jüngsten Geschichte werden Grundrechte immer wieder im Namen der gerechten Sache eingeschränkt. "[The American people] did not want Guantanamo detainees brought to the United States and tried in civilian courts with the same constitutional rights as common criminals", schreibt George W. Bush in seinen Memoiren DECISION POINTS, während er seine Verhörmethoden rechtfertigt. Beide erklären, wie sie sich zu ihren Entscheidungen gezwungen fühlen: "You're making me do this", sagt Keller zu seinem Gefangenen, während er ihn mit Kalt- und Heißwasser foltert. "The choice between war and peace belonged to Saddam Hussein alone", schreibt Bush über seinen Konflikt mit dem irakischen Diktator.


Es sind unfreundliche Bilder, die Villeneuve und sein Kameramann Roger Deakins verwenden: statische Aufnahmen, farblos und uneinladend, die Scheiben vom Regen und Schnee manchmal ganz undurchsichtig. Der Film taucht tief in den Schmerz und die Ohnmacht der Eltern ein, deren Kinder verschwunden sind, und die meiste Zeit murmeln die Protagonisten ihre Sätze, als hätte sie die Hoffnungslosigkeit dieser Welt schon vor langer Zeit ermüdet.

Aber Regisseur Denis Villeneuve beschränkt sich nicht darauf, zu zeigen, wie ein Mann im Namen des notwendigen Übels die Menschlichkeit aller Beteiligten, allen voran seine eigene, über Bord wirft. Die Welt von PRISONERS ist eine kalte Hölle, in der das Schlechte wie ein Virus um sich greift: Da hat ein Priester einen Mann umgebracht, der ihm in der Beichte von Kindesmorden erzählt hat, und anderswo stellt sich heraus, daß ein Täter früher einst Opfer war, das nun den Mustern seines früheren Peinigers folgt. Die erst ganz nebensächlichen Handlungsstränge werden sich zum Schluß zum Porträt einer Welt zusammenfügen, in der wie in einer Epidemie ein menschlicher Abgrund den nächsten bedingt, ohne Anfang und Ende, wie in dem kreisförmigen Labyrinth, das immer wieder als Symbol auftaucht.

Ein Vater bringt seinem Sohn das Jagen bei: Im Nachhinein wirkt das anfängliche Bild wie blanker Hohn. Was Keller weiterreichen wird, ist die Tatsache, daß es in der Welt von PRISONERS kaum Unterschiede zwischen Opfer und Täter gibt.



Prisoners (USA 2013)
Regie: Denis Villeneuve
Buch: Aaron Guzikowski
Kamera: Roger A. Deakins
Musik: Jóhann Jóhannsson
Darsteller: Hugh Jackman, Jake Gyllenhaal, Viola Davis, Maria Bello, Terrence Howard, Melissa Leo, Paul Dano

Die Screenshots stammen von der BluRay (C) 2013 Tobis/Alcon Entertainment.

ZÄRTLICH, ABER FRECH WIE OSKAR: Lauter Nackerte!

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Eine Nackerte!", stottert Herbert Fux schon zu Beginn von ZÄRTLICH, ABER FRECH WIE OSKAR ganz entsetzt. Er läuft als Pfarrer durch das friedliche Velden am Wörthersee (womit auch die Produktionsfirma des Streifens klar sein dürfte), die Nase im Buch, da laufen ihm plötzlich blanke Brüste über den Weg. Verzweifelt versucht er noch, die zeigefreudige Dame mit seinem Hut zu bedecken, da springt sie schon in den See. Es wird nicht die letzte Begegnung des werten Geistlichen mit kleidungsarmen Badenymphen sein, und er wird nicht zum letzten Mal aufstöhnen: "Lauter Nackerte!"

Nur Zyniker würden den Grund für die Tatsache, daß Fux mit der eigentlichen Filmhandlung nie in Berührung kommt, darin wähnen, daß er gar keine solche gibt. Von wegen: Es wird beinahe permanent um "lauter Nackerte" gehen, diverse Grazien werden hier selten mit ihren Reizen geizen – und so ist Fuxens Pfarrer, so wenig er auch die eigentlichen handlungstragenden Personen streift, ganz klar leitmotivisch zu verstehen.

Lauter Nackerte - angefangen bei Marie Luise (Renate Langer).

Im Gegensatz zu sämtlichen anderen deutschen Komödien beschreitet die Lisa-Produktion aus dem Jahr 1980 (später auch als DER GENDARM VOM WÖRTHERSEE veröffentlicht) erzählerisch absolutes Neuland: Hier wird zu keinem Zeitpunkt irgendjemand oder irgendetwas verwechselt. Nur mit den Namen seiner Geliebten tut sich unser Protagonist Peter (Frankreich-Import Régis Porte) manchmal etwas schwer – was angesichts der Vielzahl seiner Liebschaften aber auch nur allzu menschlich ist.

Schon beim Aufbruch zur Heldenreise zeigt sich, welchem Streß der moderne Mann gewachsen sein muß: Peter will mit seinem besten Freund Freddy (Tobias Meister, mittlerweile Synchronsprecher für Brad Pitt) nach Italien in den Urlaub fahren, aber nicht unbedingt seine etwas anstrengende Bettgenossin Mijou (Esther Studer aus dem Jess-Franco-Harem, hier als "Ester Do Sica") mitnehmen. Immerhin will er ja neue Frauen kennenlernen, da hilft so eine eifersüchtige Altlast wirklich nicht, auch wenn sie noch so viel im Naturkostüm herumspaziert. Auch Helga (die reizende Gesa Thoma) und Mathilde (die ebenso reizende Corinna Drews, hier noch als Corinna Gillwald), die just an diesem Tag urlaubsbereit auf der Matte stehen, wären da eher hinderliche Anhängsel – und die nackte Dame im Gästezimmer wird erst gar nicht gefragt.

Billi (Patricia Zenker) ist Peters Liebste - wenn man die anderen mal wegdenkt.

Leider wußten Peters Schönheiten bislang nichts voneinander, weshalb sich schnell ein Streit entfacht, wer denn nun Peters wahre und einzige Freundin sei. "Sag doch mal was", fordert Helga ihn in der aufgebrachten Zankerei zur Diskussionsteilnahme auf – aber Peter hat die lautstarken Unstimmigkeiten längst genutzt, um sich mit Freddy zum Auto zu schleichen und sich auf die Lustreise zu begeben.

Wir ahnen: Peter wird auch den restlichen Film über arge Schwierigkeiten haben, im Dickicht der, nunja, willigen Weiber wohlauf zu bleiben. Und bis Italien schaffen es die beiden Freunde gar nicht: Eine kurze Rast am Wörthersee wird sich zum langen Aufenthalt ausdehnen, weil Peter seine letztjährige Ferienbekanntschaft Billi (Patricia Zenker) wiedertrifft. Die hatte er im Vorjahr vernascht, und obwohl er nie geschrieben hat, ist sie höchst entzückt über seine Rückkehr und will die Beziehung intensivieren. Außerdem locken die wohlgeformte Marie Luise (Renate Langer) und eine nette Blondine namens Christl (Barbara May). Immerhin: Letztere wird dem frustrierten Freddy zugeschachert, weil der wie Christl noch unberührt ist und Peter sich offenbar nur für Expertinnen erwärmen kann.

Streß für Peter (Régis Porte): Nicht nur Mijou (Esther Studer) möchte sich aussprechen ...
... sondern auch Mathilde (Corinna Drews) ...
... und Helga (Gesa Thoma, Mitte) genauso, im Zwiefelsfall als Gruppensitzung.

Es ist fast als pathologisch zu betrachten, wie eifrig Peter mit seinen Gespielinnen jongliert: Selbst beim Rendezvous läßt er gelegentlich eine Frau eine Zeitlang alleine zurück, um in der Disko nebenan mit der nächsten Zeit zu verbringen. Keine von ihnen hinterfragt Peters lange Abwesenheiten im Detail, und selbst wenn mal eine meint, sie sei zu kurz gekommen, nimmt ihm keine die Unstetigkeit wahrhaft übel. Kurzum: Peter ist ein Vorbild, wie man es nur selten im deutschen Film zu sehen bekommt.

Freddy tut sich derweil schwer mit Christl, auch wenn die ganz und gar offen für Vergnügungen der intimen Art wäre: Selbst, wenn sie sich schon mit angespitzten Lippen zu ihm herüberbeugt, weiß der arme Bursche nicht so recht, was er machen soll. Welch weiten Weg er beim Studium der Verführungskünste noch zurücklegen muß, merkt man schon an einer frühen Szene, in der Peter die soeben dem See entstiegene Marie Luise anspricht und sie schon nach wenigen Sätzen mit einer Verabredung und einem Abschiedskuß beglückt – aber als Freddy dasselbe mit der nächsten Hübschen probiert, beginnt er mit der in gewissen Kulturkreisen als unromantisch empfundenen Frage "Hallo Fräulein, wollen Sie mit mir bumsen?" und kriegt prompt eine geschallert.

Frust bei Christl (Barbara May): Freddy (Tobias Meister) muß das mit dem Aufriß noch üben.

Damit der nackte Wahnsinn auf Spielfilmlänge kommt, wird das Lisa-Spaßprogramm in voller Wucht aufgefahren. Herbert Fux stapft immer wieder durchs Bild, um "lauter Nackerte!" zu rufen, während Alexander Grill als Kellner einen "gespielten Witz" nach dem anderen vom Stapel läßt – und in einer soziodokumentarischen Studie der österreichischen Gastfreundschaft eine Gruppe asiatischer Gäste merhfach als "chinesische Saupreißn" beschimpft. Freilich gibt es auch musikalische Einlagen: Eine Band namens "Die Speedys" rockt einen minimalrebelliösen Song durch die Disko – und weil die Band keiner kennt, darf sie sicherheitshalber zweimal mit derselben Nummer auftreten.

Irgendwann aber scheint sich Peter derart für seine zarte Billi zu erwärmen, daß er sämtlichen anderen Frauen abschwört. Das nimmt ihm allen voran der Film selber übel, der eine Zeitlang den Eindruck macht, als würde er aus Empörung über Peters Monogamie prompt alle Nackerten in den Ruhestand schicken. Zum Schluß versammelt sich zum Schluß nochmal ein präsentables Panoptikum reizender Rundungen: Mijou, Helga und Mathilde kommen am Wörthersee an und verlieren in Peters Gegenwart sofort ihre Kleidung – obwohl sie eigentlich noch etwas stinkig sind, daß er ohne sie in Urlaub fahren wollte, aber es scheint schon ein Wiedergutmachungsplan angedacht zu sein. Leider ziert sich Peter etwas, und so landen die drei motivierten Mädels eine nach der anderen unter dem Bett, um sich vor der jeweils nächsten zu verstecken.

Ganz klar: Ein durch und durch großartiger Film. Und lauter Nackerte!


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Zärtlich, aber frech wie Oskar (Deutschland 1980)
Alternativtitel: Der Gendarm vom Wörthersee
Regie: F.J. Gottlieb
Buch: "Florian Burg" (= Erich Tomek)
Kamera: Franz X. Lederle
Musik: Gerhard Heinz
Darsteller: Régis Porte, Patricia Zenker, Tobias Meister, Herbert Fux, Renate Langer, Alexander Grill, Walter Kraus, Marie Luise Lusewitz, Werner Röglin, Otto W. Retzer, Rosl Mayr, "Ester Do Sica" (= Esther Studer), Babsi May, Gesa Thoma, Corinna Gillwald

Die Screenshots stammen von der DVD (C) MCP Sound & Media.

JÄGER DES VERLORENEN SCHATZES: Mythologie und Symbole

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In dem Film JÄGER DES VERLORENEN SCHATZES begab sich 1981 der Archäologe Indiana Jones auf sein erstes Abenteuer - und gab damit nicht nur den Startschuß für viele weitere Geschichten und Variationen, sondern beeinflußte auch maßgeblich den modernen Blockbuster. Was die Indiana-Jones-Figur aber von vielen Nachahmern und ähnlichen Eventkino-Versuchen absetzt, ist die Tatsache, daß Regisseur Steven Spielberg und Produzent George Lucas ihren Protagonisten nicht nur als menschlichen Helden zeichnen, sondern ihn auch mit subtilen Mitteln zu einer tiefergreifenden Mythologie formen.

Auch in seinem KRIEG-DER-STERNE-Universum setzte George Lucas immer wieder Mythen und Symbole ein, die aus dem altmodischen Abenteuerspektakel mehr machten: Er verstand es, Archetypen einzusetzen, die Bedeutungen mit sich tragen und über die konkreten Personen, Gegenstände und Geschehnisse hinausgreifen. In JÄGER DES VERLORENEN SCHATZES schaffen Spielberg und Lucas für ihren Helden eine eigene Ikonographie: Die Bilder und Elemente, über die wir unsere Hauptfigur identifizieren, werden noch vor der Figur selber eingeführt und stehen damit nicht nur für das spezifische Abenteuer, sondern stellvertretend für alle.





Nachdem vom bekannten Paramount-Logo zu einem tatsächlichen, ähnlich aussehenden Berg überblendet wurde, bewegt sich unser Held an der Kamera vorbei nach vorne ins Bild. Er bleibt kurz stehen und betrachtet den Berg, dann geht er weiter. Es folgen ihm einige weitere Männer, von denen sich einer nervös umdreht.

Unseren Protagonisten haben wir damit schon in der ersten Einstellung gesehen - oder vielmehr seine Silhouette. Diese Umrisse, die vor allem durch den Hut unverkennbar sind, werden uns immer wieder begegnen - und unser Held ist damit von Beginn an durch ein spezifisches Bild identifizert.

Auch in der folgenden Sequenz, in der sich die Gruppe ihren Weg durch den Dschungel bahnt, werden wir den Mann nie ganz zu Gesicht bekommen - er ist zu weit weg, von der Kamera abgewandt, wir sehen nur Teile (zum Beispiel seine Füße), oder er bleibt durch das Dickicht verborgen:











Der Eindruck, den wir schon im ersten Bild bekommen haben, bestätigt sich: Der Mann ist offenbar der Anführer der Gruppe. Er schreitet wortlos voran, was ihn umso mysteriöser macht, und er bleibt unerschrocken, wo sich die anderen Mitglieder der Gruppe ängstlich zeigen - zum Beispiel bei einem Giftpfeil, den er im Baum findet und unkommentiert fallen läßt.

Wenn wir den Mann in der nächsten Sequenz endlich sehen und damit gewissermaßen besser kennenlernen, wird das schon vertraute Bild seiner Silhouette gleich mit einem weiteren Bild verknüpft, das zur Mythologie seiner Figur gehört:


Mittlerweile folgen ihm nur noch zwei andere Abenteurer. Sie kommen an einen Fluß. Unser Mann mit dem Hut bleibt stehen, ein zweiter nähert sich ihm von hinten.



Der zweite Mann drückt ihm etwas in die Hand. Unser Mann geht nach vorne, die Kamera begleitet ihn - aber seine Silhouette verschwindet hier noch mehr in Dunkeln als zuvor.


Wir sehen den anderen Abenteurer (der junge Alfred Molina!), von unten hebt sich die Hand unseres Mannes ins Bild. Er studiert eine Karte, der zweite Mann schaut neugierig zu.


Jetzt tritt der dritte Mann von hinten nach vorne, die Kamera bewegt sich schnell auf sein Gesicht zu.


Der Mann zieht eine Pistole aus der Tasche ...


... was unser mysteriöser Mann, wieder beinahe vollständig als Silhouette gezeigt, bemerkt: Er hört, wie der Hammer gespannt wird, und dreht den Kopf leicht zur Seite.


Der Mann mit der Pistole zielt ...


... aber unser Mann greift zu der Peitsche, die er seitlich am Gürtel trägt. Die folgende Aktion geht so schnell, daß die einzelnen Einstellungen nur ein paar Frames lang laufen.


Er holt mit der Peitsche nach hinten aus ...


... und läßt sie nach vorne schnalzen. Im Hintergrund sieht der andere Mann überrascht zu.


In einem Bild, das in seiner Duell-artigen Komposition an einen Western erinnert, knallt die Peitsche nach vorne. Wenn man sich die Einstellung Bild für Bild ansieht, bemerkt man, daß die Armbewegung nach hinten hier nochmal erfolgt - aber weil die Einstellungen so schnell geschnitten waren, fällt das gar nicht auf. In diesem Bild sehen wir unseren Mann mit dem Hut übrigens zum ersten Mal von vorne - aber weil er noch im Schatten steht und die Einstellung nicht lang bleibt, nehmen wir noch kaum Notiz davon.


Der andere Mann verzieht das Gesicht im Schmerz, nimmt seine von seiner Peitsche getroffene Hand hoch ...


... während sein Revolver im Wasser landet.


Nochmal der Angreifer, der jetzt vor seinem Widersacher Angst kriegt.



Unsere jetzt schon vertraute Silhouette bekommt ein Gesicht: Der Mann tritt nach vorne, das Licht streift sein Gesicht von der Seite - und damit wird uns unser Held gewissermaßen vorgestellt. Wir haben ihn über eine andere Figur kennengelernt - den Angreifer, dem er das Fürchten gelehrt hat - und über eine Handlung: Ganz offensichtlich kann dieser Mann blitzschnell auf Gefahren reagieren.


Der Angreifer rennt davon.


Wir sehen nochmal die Peitsche, während unser Held sie sorgfältig wieder zusammenrollt. Zu seinem Mythos fügt sich also ein weiteres Bild: die Waffe seiner Wahl, mit der er schneller umgehen kann als ein anderer mit der Pistole.



Unser Mann sieht dem Angreifer hinterher, verzieht dabei aber keine Miene. Dann geht er zu seiner Rechten aus dem Bild, die Kamera schwenkt mit und verharrt auf dem Beobachter, der unserem Mann verblüfft hinterherstarrt. Auch diese Reaktion ist wie die des Angreifers ein kleiner Baustein in der Mythologie: Der Außenstehende ist gewissermaßen Zeuge, der von den Fähigkeiten des Helden berichten kann (auch wenn er im Falle dieses Films nicht lange Gelegenheit dazu haben wird).

Auch im restlichen Film wird die anfangs eingeführte Ikonographie dieser Figur ausgebaut und immer wieder eingesetzt. Man denke an die Szene, in der Indiana Jones Marion in Nepal besucht.



Seine Silhouette taucht an der Wand auf, sie bemerkt ihn und geht auf ihn zu ...  


... und erst dann sehen wir ihn tatsächlich von vorne, wie er antwortet. Man beachte auch, wie klein er in diesem Bild gegenüber seinem Schatten wirkt, nachdem der Großteil der Einstellung von ihrem Kopf ausgefüllt wird - ein passender Auftakt dazu, daß sie ihn gleich wütend mit der Faust begrüßen wird.

In der Szene, wo Indiana Jones nach der "Quelle der Seelen" gräbt, funktioniert die Ikonographie andersherum:






Jones hat den richtigen Ort gefunden - noch verkleidet. Die Kamera gleitet nach unten, er setzt den ersten Spatenstich - dann folgt eine Überblendung zu einem Silhouettenbild, in dem er seinen Hut wieder aufsetzt und über die Grabungsarbeiten wacht.

Auch die Peitsche bleibt ein wichtiger Gegenstand, der Indiana Jones immer begleiten muß - sie hängen zusammen wie Excalibur und König Artus. Seine Waffe taucht deshalb auch immer wieder auf, selbst wenn er nur auf eine Gefahr hinweist:


Kein Wunder also, daß er die Peitsche retten muß, selbst wenn vor ihm ein Steinblock nach unten saust und er nur noch eine Sekunde hat, überhaupt nach dem Gegenstand zu greifen (passenderweise ist es im nächsten Film dann der Hut, den er im letzten Moment noch packen kann):


Daß Spielberg und George Lucas um die tiefergreifende Bedeutung von Bildern und Symbolen wissen, zeigt sich auch an zahlreichen anderen Stellen des Films - auch Roger Ebert weist in seinem Rückblick aus der Reihe "Great Movies" darauf hin: "Throughout the film, there is a parade of anti-Nazi symbolism and sly religious satire", schreibt er.

Man denke beispielsweise an die Kiste, in der die Nazis die Bundeslade aufbewahren: Die Kraft der Bundeslade verbrennt das Hakenkreuz.




Ein Äffchen, das den Hitlergruß nachahmen kann, ist subtiler, aber ebenso eine Demontage eines Symbols:


Man denke auch an den Talisman, der entweder Erkenntnis bringen kann (passenderweise gepaart mit Licht!) oder wie als Kainsmal fungiert:




Und nicht zu vergessen die Öffnung der Bundeslade selber, die im Vorfeld schon als quasi überliefertes Bild angekündigt wird und sich dann exakt so abspielt:




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Die Screenshots stammen von der Blu-Ray (C) 2012 Paramount.

CATCH ME IF YOU CAN: Ein Hochstapler und das Abenteuer seines Lebens

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Die Geschichte ist schon lange Hollywood-Folklore: Mit einer immensen Portion Chuzpe bewaffnet bezieht der junge Steven Spielberg auf dem Gelände der Universal-Studios ein leeres Büro, läßt seinen Namen an der Tür anbringen und arbeitet dort wochen-, wenn nicht gar monatelang, ohne aufzufliegen. Ein Filmverrückter schleust sich schlitzohrig selber ins System ein und wird dafür mit dem Abenteuer seines Lebens belohnt: Die Story ist dieses talentierten Geschichtenerzählers würdig. (Georg Sesslen merkt in seinem Buch STEVEN SPIELBERG UND SEINE FILME trocken an: "Sagen wir es freundlich: Der Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen ist nicht über alle Zweifel erhaben.")

Bei einer solchen, wie man es im Comic-Universum ausdrücken würde, eigenen Origin-Story ist es kein Wunder, daß Spielberg sich zu der wahren Geschichte von Frank Abagnale, Jr. hingezogen fühlt. Dieser Mann zählt zu den raffiniertesten Gaunern Amerikas: Mit gefälschten Schecks besorgte er sich mehrere Millionen Dollar, er trat überzeugend als Pilot auf, als Arzt und als Anwalt – und das alles, bevor er 21 wurde. Letztlich wurde Abagnale aber doch vom FBI geschnappt – und arbeitete nach seiner Haftstrafe aufgrund seiner Fähigkeiten mit seinem Verfolger zusammen, um andere Scheckbetrüger zu schnappen.

FBI-Agent Carl Hanratty (Tom Hanks, hinten) ist Frank Abagnale, Jr. stets auf den Fersen.

Es mag daran liegen, daß Spielberg sich mit dem jugendlichen Schwindler identifiziert, daß CATCH ME IF YOU CAN als leichtfüßiges Katz-und-Maus-Spiel funktioniert, bei dem wir stets auf der Seite des Betrügers sind. Bereitwillig lassen wir uns wie der Film von seinem mühelosen Charme einwickeln, können vergnügt daran teilhaben, wie sich Abagnale beständig neu erfindet, und dabei einen immensen Respekt vor seinem Einfallsreichtum und seiner Geschicklichkeit entwickeln. Es ist eine zu schöne Phantasie: Manchmal möchte man sich eben, nur mit dem richtigen Auftreten ausgestattet, Zugang zu sonst verschlossenen Welten erlangen. Frank Abagnale beherrscht dieses Spiel - nach ein paar frühen Anläufen - im Schlaf.

Freilich hilft es, daß Frank dabei nicht nur wie ein Unschuldslamm wirkt, sondern tatsächlich nie einen Masterplan verfolgt – er betrügt nicht, um anderen Menschen Schlechtes zu tun, sondern nur, um sich selber Gutes zu tun. Seine Scheckbetrügereien zielen vornehmlich auf große Firmen ab und nicht auf einzelne Personen, seine Schwindeleien geraten niemandem zum Nachteil. Anderswo funktionieren seine Hochstapeleien als Schelmenstreich: In einer amüsanten Szene liest ihn eine Edelprostituierte auf, die seine Naivität ausnutzt, um ihren Preis in die Höhe zu treiben – und dann zahlt Frank mit einem zu hoch dotierten gefälschten Scheck und läßt sich von ihr die Differenz bar ausbezahlen.

Dieses Spiel wird Eskortmädchen Cheryl Ann (Jennifer Garner) verlieren ...

Wie so oft bei Spielberg wird die Geschichte von der Beziehung zwischen einem Vater und einem Sohn vorangetrieben. Frank vergöttert seinen Vater, von dem er früh lernt, die Menschen mit Charme zu becircen. Ein Naturtalent im leichten Leben ist Frank Sr. allerdings kaum: Die Steuerfahndung sitzt ihm im Nacken, die Bank gibt ihm keinen Kredit mehr, das Haus muß verkauft werden, Franks Mutter betrügt ihn und läßt sich von ihm scheiden.

In einer bewegenden Szene zwischen Vater und Sohn in einem Restaurant macht CATCH ME IF YOU CAN klar, daß sich hier zwei tragische Figuren gegenübersitzen. Fast obsessiv versucht Frank Jr. mit seinen Betrügereien, sein kindliches Zuhause wiederherzustellen: Immer wieder schwärmt er dem Vater vor, daß sich finanziell jetzt alles zum Guten wenden würde, und will ihm teuren Luxus schenken, damit der seine entfremdete Frau wieder für sich gewinnen kann. Frank Sr. definiert sich über ein überschaubares Repertoire alter triumphaler Geschichten: Zum wiederholten Mal erzählt er die Geschichte zweier Mäuse, die in einem Bottich aus Sahne landen. Eine ertrinkt, aber die andere gibt nicht auf, und durch ihr Strampeln wird die Sahne irgendwann zu Butter, so daß die Maus herausklettern kann. Und eine zweite Geschichte erzählt er: Wie er damals als Soldat das schönste Mädchen in einem französischen Dorf für sich gewinnen konnte – Franks Mutter. In der Szene kann er es nicht zu Ende erzählen, ohne zu weinen.

Nach dem GOLDFINGER-Kinobesuch läßt sich Frank wie Sean Connery ausstatten.

Tatsächlich hat Frank sogar zwei Väter: Nachdem er nach der Scheidung seiner Eltern von Zuhause weggelaufen ist, findet er in dem FBI-Agenten Carl Hanratty eine Art Ersatzvater. Zu Weihnachten ruft Frank Carl im Büro an und sagt ihm sogar, in welchem Hotel er sich gerade befindet und in welchem Zimmer – aber Carl glaubt, daß es sich um einen Trick handelt. Dennoch durchschaut er sofort, warum Frank anruft: "You didn't have anyone else to call." Auf gewisse Weise ist Hanratty auch der Einzige, der Franks betrügerische Kreativität respektieren kann – und auch wenn Carls Leben beschaulich und unaufregend verläuft (in einer schön ironischen Montage sehen wir, wie sich Frank gerade mit dem Callgirl vergnügt, während Carl sich im Waschsalon langweilt), haben sie in ihrem einsamen Einzelgängertum doch auch etwas gemeinsam.

CATCH ME IF YOU CAN gehört zu Spielbergs leichtesten und amüsantesten Filmen und erzählt dabei doch eine bewegende Geschichte. Mit sichtlichem Vergnügen spielt der Regisseur mit dem farbenfrohen Flair der Sechziger und hat eine diebische Freude an den Gaunereien seines Protagonisten - vor allem, wenn der sich sein Verhalten von Film- und Fernsehvorbildern abschaut. Leonardo DiCaprio verkauft den verführerischen Charme perfekt, mit dem Frank seine Umwelt – und vor allem die vielen schönen Frauen – um den kleinen Finger wickelt. Auch Tom Hanks ist genau richtig als FBI-Agent Hanratty, der schon alleine dadurch komisch wird, daß er überhaupt keinen Sinn für leichen Humor hat. Und Christopher Walken als Frank Sr. gibt dem ernsten Unterbau der Komödie die notwendige emotionale Erdung.

Daß Frank zum Schluß noch einmal ausbrechen und sich als falscher Pilot auf die Flucht begeben möchte, ist nachvollziehbar: Gegen die Phantasie ist das echte Leben manchmal ernüchternd. Dafür hat er etwas geschafft, das dem Androidenkind David in Spielbergs A.I. - der ebenso menschliches Verhalten nachahmte, um geliebt zu werden - versagt blieb: Nach all den vorgetäuschten Identitäten ist der verlorene Junge Frank Abagnale, Jr. zu einer echten Person geworden. Das Abenteuer seines Lebens liegt noch vor ihm.


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A.I. - KÜNSTLICHE INTELLIGENZ: Verstand vs. Gefühl
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Lichtspielplatz #4 - BRIDGE OF SPIES und die Politik von Steven Spielberg



Catch Me If You Can (USA 2002)
Regie: Steven Spielberg
Buch: Jeff Nathanson
Kamera: Janusz Kaminski
Musik: John Williams
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Tom Hanks, Christopher Walken, Martin Sheen, Nathalie Baye, Amy Adams, James Brolin, Brian Howe, Jennifer Garner, Elizabeth Banks

Die Screenshots stammen von der DVD (C) 2003 DreamWorks L.L.C.

A.I. - KÜNSTLICHE INTELLIGENZ: Verstand vs. Gefühl

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A.I. – KÜNSTLICHE INTELLIGENZ ist vielleicht Steven Spielbergs ambitioniertester und gleichzeitig frustrierendster Film. Man merkt ihm seine inneren Kämpfe an: Die bittere Dystopie gegen das aufregende Endzeitabenteuer, die philosophischen Fragen gegen das sentimentale Gefühl, der erwachsene Pessimismus gegen das kindliche Staunen, das nüchterne Auge eines Stanley Kubrick gegen die menschliche Wärme eines Steven Spielberg.

A.I. war ursprünglich ein Projekt von Kubrick, der die Geschichte über lange Jahre entwickelte, aber mit der Umsetzung vor allem deshalb zögerte, weil er Zweifel hegte, ob die Tricktechnik schon soweit sei. Mitte der Achtziger erzählte er erstmals seinem Freund Steven Spielberg von der Geschichte – und als er 1993 in JURASSIC PARK sah, was der aus den neuen digitalen Möglichkeiten herausholen konnte, wollte er ihm das Projekt übergeben. Spielberg lehnte ab, aber als Kubricks Witwe nach dessen Tod nochmal auf ihn zukam, setzte er den Film auf Basis des von Kubrick entwickelten Skripts und einigen hundert Konzeptzeichnungen um.

Der moderne Geppetto: Prof. Hobby (William Hurt).

In einer nicht weit entfernten Zukunft, in der die Klimakatastrophe Küstenstädte wie New York und Amsterdam unter Wasser gesetzt hat, sind menschenähnliche Roboter, sogenannte "Mechas", allgegenwärtig. Ein brillanter Wissenschaftler mit dem ironischen Namen Hobby (William Hurt) will einen Schritt weitergehen: Er baut einen kleinen Jungen, der die bedingungslose Liebe zu seinen Eltern simuliert.

Dieses Mecha-Kind mit dem Namen David (Haley Joel Osment) kommt bei Adoptiveltern unter – aber als deren kranker Sohn, den sie dem Tode geweiht sahen, geheilt nach Hause zurückkehrt, herrscht Eifersucht zwischen dem echten Kind und dem künstlichen. Die Eltern entschließen sich, David wieder loszuwerden – aber die Mutter bringt es nicht fertig, das Roboterkind zur Demontage in die Fabrik zurückzubringen, und setzt ihn stattdessen im Wald aus. Fortan streift David durch die Welt, um wie im Pinocchio-Märchen die blaue Fee zu suchen: Er hofft, dass sie aus ihm einen echten Jungen machen kann, damit er von der Mutter wieder geliebt wird.

Mutter Monica (Frances O'Connor) aktiviert das Programm,
mit dem David (Haley Joel Osment) sie bedingungslos lieben wird.

Auch wenn das Grundgerüst der Geschichte inklusive ihrem Ende schon bei Kubrick angelegt war, ist doch deutlich, warum der den Film Spielberg anvertrauen wollte: Die Reise nach Hause ist ein zutiefst Spielbergsches Motiv, ob wörtlich genommen wie in E.T. – DER AUSSERIRDISCHE oder übertragen wie in SUGARLAND EXPRESS oder CATCH ME IF YOU CAN, wo die Zusammenführung der Familie ein in dieser Form nicht mehr existentes Zuhause wiederherstellen soll. Auf David trifft beides zu: Er will zu seinem tatsächlichen Heim zurückkehren und erhält eine artifizielle Kopie davon, auf schmerzliche Weise passend zu seiner eigenen Künstlichkeit.

A.I. packt viele Facetten in seine Zukunftsvision und muß deshalb mit mehrfachen Tonfallbrüchen leben. Da ist einerseits die Schreckensvision einer Welt, in der die Individualität – nicht erst seit DER SOLDAT JAMES RYAN eines der kostbarsten Güter in Spielbergs Welt – aufgehoben wird und damit das sichere Gefüge des familiären Zuhauses bedroht ist: David wird quasi als Ersatzkind für den echten Sohn herangeschafft, streift wie ein fremdartiger Geist durch die Wohnung und wird irgendwann als Bedrohung wahrgenommen. Auch für seinen Schöpfer, Dr. Hobby, ist David nur eine Art Stellvertreter: Er modellierte ihn nach seinem echten verstorbenen Kind, und in einer der unheimlichsten Szenen des Films stolpert David über eine Vielzahl an Kopien seiner selbst, die in den Laboratorien des Wissenschaftlers herangezüchtet werden.

Die Kopie der Kopie: David (Haley Joel Osment) ist nur einer unter vielen.

Gegen diese gespenstischen Brüche des natürlichen Selbstverständnisses steht der andere Teil des Films: die Außenwelt, in der Mechas als Liebesdiener fungieren, von aufgebrachten Menschen als "unnatürlich" gehaßt werden, wie die Untoten Schrottplätze nach Ersatzteilen absuchen und in zirkushaften Veranstaltungen für die schaulustige Menge vernichtet werden. Von der kühlen Scheinwelt der Adoptivfamilie und des Schöpfervaters ist hier keine Spur: Diese Sequenzen sind als knallbuntes Abenteuer inszeniert – das Anti-Mecha-Spektakel wirkt inklusive Ministry-Auftritt, als hätte man Wacken nach Las Vegas verlegt, die Stadt mutet an, als wäre Willy Wonka der Regisseur von BLADE RUNNER. Und wie es sich für ein pinocchiohaftes Märchen gehört, verbindet diese Schauplätze ein Gruselwald, in dem selbst der lichtspendende Mond eine Gefahr bedeuten kann.

Am Schluß des Films, wo die Zukunftsvision am mutigsten und erschreckendsten wird, zerren die unterschiedlichen Ansätze des Films am spürbarsten aneinander. Es ist eigentlich ein pessimistisches Ende: Die Menschheit ist verschwunden, übriggeblieben sind nur die künstlichen Maschinen – und die sehen ironischerweise unseren Androidenjungen, der so gerne ein echter Mensch gewesen wäre, als direkteste Verbindung zu den mittlerweile unbekannten menschlichen Wesen an. Aber was gedanklich wie eine resignierte Umkehrung wirkt, funktioniert auf der Leinwand eher als bittersüße Erfüllungsphantasie: Die Szenen sind so beschäftigt mit Davids Wunsch nach seinem Zuhause, daß man kaum auf den Gedanken käme, der ausgelöschten Menschheit hinterherzutrauern.

Davids Begleiter Joe (Jude Law) im Geisterwald.

Man merkt es A.I. an, daß da ein Regisseur auf die Fragen eines anderen antwortet – aber beide nicht dieselbe Sprache sprechen. Kubrick war an den philosophischen Fragen zum Wesen des Menschen an sich interessiert, zum Verhältnis des Menschen gegenüber seiner Schöpfung, zu den Grenzen der Künstlichkeit. Auch Spielberg interessieren diese Themen, aber er betrachtet Menschlichkeit im Sinne von Humanität, Verantwortung im Sinne von Treue und Künstlichkeit im Sinne von Individualität.

Es ist spannend, daß hier Kopffragen mit dem Herzen beantwortet werden, und fast unumgänglich, daß dabei aneinander vorbeigeredet wird – und das wiederum ist zutiefst menschlich. Vielleicht ist A.I. gerade wegen dieses Scheiterns so lohnenswert.


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A.I. - Künstliche Intelligenz (USA 2001)
Originaltitel: A.I.: Artificial Intelligence
Regie: Steven Spielberg
Buch: Steven Spielberg
Kamera: Janusz Kaminski
Musik: John Williams
Darsteller: Haley Joel Osment, Frances O'Connor, Sam Robards, Jude Law, William Hurt, Jake Thomas, Jack Angel (Stimme), Robin Williams (Stimme), Meryl Streep (Stimme), Ben Kingsley (Stimme), Chris Rock (Stimme)

Die Screenshots stammen von der DVD (C) 2002 Warner Home Video GmbH.

DER SOLDAT JAMES RYAN: Vom Krieg und der Sinnfrage

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Nicht einmal der Soldat, der gerettet werden soll, versteht die Mission. Weil seine drei Brüder in kürzester Zeit hintereinander im Zweiten Weltkrieg gefallen sind, beschließt das Kriegsministerium, eine Einheit loszusenden, die den Gefreiten James Ryan aus dem Einsatz holen und nach Hause schaffen soll – mitten aus Frankreich, wo sich die Alliierten derzeit brutale Gefechte mit den deutschen Besatzungstruppen liefern. "It doesn't make any sense", schüttelt Ryan ungläubig den Kopf, als der Trupp ihn schließlich findet.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit wird in Steven Spielbergs DER SOLDAT JAMES RYAN immer wieder angesprochen: Wieso schickt man acht Mann los, um einen Einzelnen zu retten, wenn diese acht das potentiell nicht überleben? Was unterscheidet Ryan von all den anderen Soldaten? Er selbst weist darauf hin, daß er in diesem Krieg nichts Besonderes ist: "Why do I deserve to go? Why not any of these guys? They all fought just as hard as me", fragt er.

James Ryan (Matt Damon, links) versteht nicht, warum gerade er gerettet werden soll.

Immer wieder gehen die Figuren im Film die Fragestellung mathematisch an: "When you end up killing one of your men, you see, you tell yourself it happened so you could save the lives of two or three or ten others. Maybe a hundred others", sinniert der Anführer der Gruppe, Captain Miller. Unter seinem Kommando fielen bislang 94 Soldaten. "But that means I've saved the lives of ten times that many, doesn't it? Maybe even twenty, right?" Er rechnet Opfer gegen das erreichte Gute.

Auch als Zuseher knobelt man an der Frage – und perfiderweise bedeutet das, daß man dem Kriegsgeschehen generell potentiellen Sinn zugesteht: Wenn die hier gezeigte Mission keinen Sinn ergibt, heißt das, daß es andere gibt, die man als sinnvoller einstufen würde. Die Rettung eines einzelnen Menschenlebens ist im Krieg offenbar bedeutungslos – und genau darin liegt der Schrecken des Krieges: Er kümmert sich nicht um Individuen.

"He better be worth it": Captain Miller (Tom Hanks) ist sich über den Sinn der Mission auch nicht im Klaren.

In den ersten fünfundzwanzig Minuten von DER SOLDAT JAMES RYAN kommt Spielberg diesem Schrecken so nah, daß es fast unerträglich ist. Alliierte Soldaten stürmen den Strand in der Normandie und geraten dabei in ein entsetzliches Inferno, bei dem nur das pure Glück über Leben und Tod entscheidet. Die Kamera ist wie bei einer Kriegsberichterstattung mitten im Geschehen, läuft mit den Soldaten um ihr Leben, nah am Boden, als müßte der Kameramann sich ebenso vor dem Kugel- und Granatenhagel ducken wie alle anderen. Das Meer färbt sich rot vor Blut, überall sind zerfetzte Körper zu sehen, und in dem Höllenlärm der Schüsse und Explosionen gehen Befehle ebenso wie Strategien völlig unter. Der brutale Realismus der Szene wird vor allem dadurch verstärkt, daß die Einstellungen so lange gehalten werden: Eben noch sehen wir, wie Soldaten von einer Granate getötet werden, dann hetzt die Kamera ohne Schnitt weiter, um irgendwie einen Überblick über das Geschehen zu bekommen. Einmal spritzt sogar Blut auf das Objektiv.

Einer der Gefallenen der Schlacht ist einer von Ryans Brüdern, was die eigentliche Handlung des Films in Gang setzt. Bei Erscheinen des Films wurde oft angesprochen, daß zwischen der schonungslosen D-Day-Darstellung am Anfang und der langen Suche nach Ryan danach ein harter Bruch durch den Film und seine Aussage geht: "Steven Spielberg hat mit 'Der Soldat James Ryan' im Grunde zwei Filme gedreht: ein zwanzigminütiges Meisterwerk der Kriegsdarstellung, und einen ordentlichen, zweieinhalbstündigen Soldatenfilm. Den einen, längeren Film kann man sich anschauen, wenn man will; den anderen, kürzeren darf man auf keinen Fall verpassen", schrieb "Die Zeit"-Korrespondent Andreas Kilb in seiner Kritik für die Zeitschrift Cinema.

Eins von vielen Schreckensbildern der Anfangssequenz: Ein Soldat will seinen abgerissenen Arm retten.

Tatsächlich behandelt Spielberg aber auch in dieser Anfangssequenz schon das Thema, das ihn auch den Rest des Films über beschäftigt: die Frage nach dem Wert des Individuums. Immer wieder werden Soldaten gezeigt, die für uns durch ein spezifisches Detail aus der Masse herausstechen – und immer wieder zeigt sich, daß das Kriegsgefecht keinen Unterschied zwischen ihnen macht. Ein Soldat wird fast durch eine Kugel getötet, die aber an seinem Helm abprallt – aber als er den Helm abnimmt und untersucht und dabei sein Glück kaum fassen kann, wird er durch einen weiteren Kopfschuß getötet. Bei einem Verwundeten kann der Sanitäter die Blutung stoppen – und dann trifft eine Kugel den Soldaten in den Kopf. Andere Soldaten stechen nur durch ihre grausamen Verletzungen heraus, wie der Mann, der wie in Trance auf dem Strand nach seinem abgerissenen Arm sucht. Nicht zuletzt ist Ryans Bruder nur ein Opfer unter vielen: eine anonyme Leiche, die neben toten Fischen im Sand liegt.

Mit der Unbarmherzigkeit seiner D-Day-Sequenz bereitet Spielberg auch den Boden vor, auf dem die immer wieder gestellte Sinnfrage überhaupt greift. Erst angesichts des kriegerischen Blutbads kann einem die Frage, welchen Sinn die Rettung eines einzelnen Menschenlebens macht, überhaupt erst paradox erscheinen. Was ist sinnloser: das Sterben von tausenden Soldaten im Kampf gegen Unterdrücker oder das Sterben einiger Menschen bei der Rettung eines Einzelnen? Nein, es gibt keine wirkliche Antwort auf die Frage – die noch dazu vielleicht auf dasselbe hinausläuft, einmal im großen politischen Kontext und einmal im kleinen individuellen.

Die Antwort auf die Frage, warum es Sinn macht, James Ryan zu retten, gab Spielberg allerdings schon einige Jahre zuvor in seinem Holocaust-Drama SCHINDLERS LISTE. Dort ließ er Itzhak Stern aus dem Talmud zitieren: "Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt."


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Lichtspielplatz #4 - BRIDGE OF SPIES und die Politik von Steven Spielberg (Podcast)



Der Soldat James Ryan (USA 1998)
Originaltitel: Saving Private Ryan
Regie: Steven Spielberg
Buch: Robert Rodat
Musik: John Williams
Kamera: Janusz Kaminski
Darsteller: Tom Hanks, Matt Damon, Edward Burns, Tom Sizemore, Adam Goldberg, Vin Diesel, Giovanni Ribisi, Jeremy Davies, Ted Danson, Paul Giamatti, Dennis Farina, Joerg Stadler

Die Screenshots stammen von der Blu-Ray (C) 2010 Paramount Pictures.

ROGUE ONE – A STAR WARS STORY: Sternenstaub gegen das Imperium

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Ich darf einen neuen Gastautoren auf Wilsons Dachboden begrüßen: Bastian G., mit dem ich über die Jahre schon viele spannende Filmdiskussionen geführt habe und der sonst unter anderem für die Seite filmfutter.com schreibt. Seinen Einstand gibt Bastian mit einer Kritik des neuen STAR-WARS-Films ROGUE ONE. Danke für den Gastbeitrag und herzlich willkommen auf dem Dachboden!



Mit DAS ERWACHEN DER MACHT hat Regisseur J.J. Abrams im vergangenen Jahr erfolgreich den Milleniumfalken erneut in die Höhe gebracht und der STAR WARS-Saga nach der verpönten Prequel-Reihe – und vor allem den digitalen Verschlimmbesserungen an der Originaltrilogie durch ihren Schöpfer George Lucas höchtspersönlich – zu neuem Glanz verholfen. Die meisten Zuschauer waren von der stilistischen Rückkehr zu den Wurzeln vollauf begeistert, auch wenn kritische Stimmen, durchaus zu Recht, einen Hang zum inhaltlichen Recycling angemerkt haben. Ja, ein Teil von DAS ERWACHEN DER MACHT war auch ein wenig ein Remake von EINE NEUE HOFFNUNG. Man wollte die eingefleischten Fans wieder mit an Bord bekommen, das Feuer von damals noch einmal entfachen. Und deshalb war eine Wiederholung der Erfolgsformel für die Weiterführung des legendären Leinwandabenteuers auch goldrichtig. Es sollte ein perfekter Appetizer werden, gespickt mit Zitaten, Andeutungen und verheißungsvollen Neuansätzen. Jetzt muss Rian Johnsons Fortsetzung im nächsten Jahr die begonnene Storyline nur erfolgreich ausbauen. Bis es soweit ist, spendiert uns das inzwischen an den Disney-Konzern verkaufte Lucasfilm mit ROGUE ONE ein interessantes Spin-off, das inhaltlich zwischen DIE RACHE DER SITH und EINE NEUE HOFFNUNG zu verorten ist.

Der Film beginnt mit der Entführung des Ingenieurs Galen Erso (Mads Mikkelsen), der sich inzwischen als Farmer niedergelassenen hat, durch den grausamen imperialen Befehlshaber Krennic (Ben Mendelsohn). Galen gelingt es noch, seine kleine Tochter Jyn in Sicherheit zu bringen, bevor die Truppen seine Frau vor seinen Augen niederschießen. Jahre später ist Jyn (Felicity Jones) erwachsen und in krimineller Hinsicht kein unbeschriebenes Blatt mehr. Eine von Cassian Andor (Diego Luna) geführte Rebellengruppe befreit die junge Frau aus der Haft – die dringende Mission der Aufständischen besteht darin, den inzwischen offenbar von der bösen Seite manipulierten Galen ausfindig zu machen und die Pläne zu der von ihm entwickelten Megawaffe, dem Todesstern, zu beschaffen, bevor es zu spät ist …

Neue Helden.

Bei ROGUE ONE hat man mit Gareth Edwards einen aus dem Indie-Sektor (MONSTERS) stammenden Newcomer auf den Regiestuhl gesetzt, der aber zuvor zumindest einmal mit seinem GODZILLA-Reboot Blockbuster-Erfahrung sammeln durfte. Auch seine Arbeit steht ganz klar in der Tradition der Ursprungsfilme, ist aber zugleich düsterer, grimmiger und martialischer ausgefallen. Wer die Anschlussfilme kennt, weiss freilich bereits, in welche Richtung sich die Story entwickeln wird. Aber es ist diese Lücke, die Edwards zusammen mit dem Autorenduo Chris Weitz (DER GOLDENE KOMPASS) und Tony Gilroy (die BOURNE-Reihe) spektakulär mit Leben zu füllen versteht. Dafür sorgen neben den erwartungsgemäß beeindruckenden Spezialeffekten eine ganze Reihe neuer Charaktere, deren Schicksal man sich zumindest nicht aus den Sequels ableiten kann. Da gibt es die zu Beginn bereits angelegte tragische Beziehung zwischen Galen und seiner Tochter, und mit K-2SO (Alan Tudyk) treffen wir einen verbal schlagfertigen Androiden, der für diverse amüsante Momente in dem ansonsten eher adrenalingetränkten Sci-Fi-Abenteuer sorgt. Und natürlich gilt es, die Frage zu beantworten, wie letztlich der Bauplan des Todessterns in den hier nur sehr kurz präsenten R2D2 gerät. Überhaupt, "alte Bekannte": Wer sich wie ich als glühender Anhänger des finsteren Darth Vader versteht, kommt in einigen kleinen, aber feinen Szenen voll auf seine Kosten.

Anders als alle anderen STAR-WARS-Filme beginnt ROGUE ONE übrigens nicht mit der altbekannten, einführenden Laufschrift, die sich in die Ferne des Alls bewegt. Außerdem übernimmt erstmals  als Komponist Oscarpreisträger Michael Giacchino (OBEN) das Zepter, der aber durchaus bewährte Motive in seinem Originalscore verarbeitet und sich somit als John Williams' legitimer Nachfolger empfehlen würde. Im Abspann ist dann übrigens doch nochmal der Altmeister selbst zu vernehmen – das nur als Anmerkung für die Puristen.

Der Kampf gegen die Todeswaffe beginnt.

Wer befürchtet hat, dass ROGUE ONE ein halbgarer Snack für die Wartezeit bis zur EPISODE VIII werden könnte, darf sich positiv getäuscht sehen: Ich muss sogar zugeben, dass der vermeintliche Platzhalter bei mir nach der ersten Sichtung einen spielfreudigeren und packenderen Eindruck hinterlassen hat als das ohnehin schon famose ERWACHEN DER MACHT.

Wenn ich mir übrigens abschließend zwei Kritikpunkte aus dem straff inszenierten Werk herauspicken soll: Da wäre zum einen die Figur des blinden Kriegers Chirrut Îmwe (Donnie Yen), der zwar tolle Martial-Arts-Tricks kann, aber sonst mit seinem vehementen Die-Macht-ist-mit-mir-Gemurmel eher negativ auffällt. Zum anderen ist (wie aber auch schon bei Abrams' Film) die Änderung der realen Sicherheitslage ein mögliches Problem für Zuschauer: Während man in den Siebzigern und Achtzigern noch beifällig das Thema "Rebellen gegen Regierung" verfolgt haben mag, könnte nicht zuletzt die aktuelle Lage in Syrien Bauchschmerzen verursachen, wenn hier die scheinbar immer guten Rebellen Sprengsätze unter Fahrzeuge werfen. Ein treffenderes Bild darf differenzierter ausfallen – aber da wir uns eh in entfernten Galaxien befinden, wiegt dieser kleine Wermutstropfen nicht wirklich schwer.



Rogue One: A Star Wars Story (USA 2016)
Regie: Gareth Edwards
Buch: John Knoll (Idee & Story), Gary Whitta (Story), Chris Weitz & Tony Gilroy (Drehbuch)
Kamera: Greig Fraser
Musik: Michael Giacchino
Darsteller: Felicity Jones, Diego Luna, Ben Mendelsohn, Donnie Yen, Mads Mikkelsen, Alan Tudyk, Jiang Wen, Forest Whitaker, Riz Ahmed, Warwick Davis

Alle Bilder stammen von der offiziellen Star-Wars-Seite, (C) Disney/Lucasfilm.


MINORITY REPORT: Spielberg, Dick und die Bombe

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Im Rahmen unserer kleinen Steven-Spielberg-Retrospektive zu seinem 70. Geburtstag schreibt mein Podcast-Kollege Dr. Wily in seinem Gastbeitrag über MINORITY REPORT, Spielbergs hochakuteller Verfilmung einer Geschichte von Zukunftsparanoiker Philip K. Dick.



Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt" erzählt die Geschichte eines Psychologen, der eine Methode entwickelt hat, um die Eigenschaften einer gezielten Menge an Einzelpersonen sehr treffgenau zu erfassen und deren Verhalten vorherzusagen. Die Methode basiert auf einer Mischung aus Theorien der Persönlichkeitspsychologie, Online-Userdaten wie Facebook-Likes oder Google-Suchbegriffen sowie zusätzlichen zusammengekauften Informationen wie Wohnadressen oder Supermarktbonuskarten. 150 Likes und das Programm kennt dich besser als deine Eltern. 300 Likes und das Programm kennt dich besser als dein Partner oder deine Partnerin. Noch mehr und das Programm kann dein Verhalten in bestimmten Situationen und auf bestimmte Reize besser vorhersagen als du selbst. Weil der Psychologe seine Methode nicht verkaufen will, wird sie von einer Firma einfach kopiert und als Dienstleistung an verschiedene rechtspopulistische Politiker verkauft, die sich damit große Wahlerfolge und den Zugriff auf Macht im Staat erhoffen.

"Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt" ist ein Artikel von Hannes Grassegger und Mikael Krogerus, der am 3. Dezember 2016 in der Zeitschrift "Das Magazin" erschienen ist. Nicht nur der Titel hätte Philip K. Dick gut gestanden – die ganze Geschichte könnte gut seiner Phantasie entsprungen sein: eine Welt, in der alle Daten irgendwo zusammenlaufen und dann von einer unbekannten Institution benutzt werden, um uns zu manipulieren, ohne daß wir etwas davon mitbekommen. Von hier ist es nicht mehr weit zu "Minority Report", einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick aus dem Jahre 1956, in der es auch um Personen und Institutionen geht, die mehr über andere Menschen wissen als diese Menschen selbst.

Jemand oder etwas anderes kennt mich besser als ich mich selbst – das bedeutet den Verlust der Kontrolle über meine eigenen Gedanken und damit meine eigene Persönlichkeit. Es ist eine der größten und tiefsitzendsten Ängste jedes Menschen.

Treffen der PreCrime-Generationen: Lamar Burgess (Max von Sydow, links) und John Anderton (Tom Cruise).


Die Verfilmung dieser Geschichte aus dem Jahre 2002 ist das Aufeinandertreffen zweier großer und gleichzeitig sehr gegensätzlicher Geschichtenerzähler des 20. Jahrhunderts. Auf der einen Seite der visionäre, mißtrauische und zuweilen paranoide Philip K. Dick. Auf der anderen Seite der ewige Humanist Steven Spielberg, der sich mit zunehmendem Alter auch als nimmermüder Verfechter von und Kämpfer für eine faire und demokratische Gesellschaft entpuppt, und der hier den Themenfaden der Individualität aus seinem Vorgängerfilm A.I. wieder aufnimmt und in eine etwas andere Richtung weiterspinnt.

In der Welt von MINORITY REPORT gibt es Menschen mit speziellen kognitiven Fähigkeiten, sogenannte Pre-Cogs, die in einer blitzartigen Vision Morde sehen können, die erst in der Zukunft passieren werden. Eine Polizeieinheit namens PreCrime macht sich diese Fähigkeit zunutze, um angehende Mörder vorzeitig zu verhaften, und kreiert so seit Jahren eine Gesellschaft ohne Morde. Einer der führenden Agenten dieser Einheit ist John Anderton (Tom Cruise), der selbst sein Kind an ein Gewaltverbrechen verloren hat und deshalb ein überzeugter Verfechter des Systems ist – bis er selbst in einer Vision der Pre-Cogs auftaucht. Von seiner aktuellen und auch zukünftigen Unschuld überzeugt, muß er fliehen und gleichzeitig versuchen, dahinterzukommen, wer die Vision um sein zukünftiges Verbrechen gefälscht hat. Was in einer Welt gar nicht so einfach ist, in der Augenscanner nicht nur auf animierten Werbetafeln angebracht sind, um den Menschen ihre personalisierte Werbung zukommen zu lassen, sondern auch über jeder U-Bahn-Tür hängen, wodurch die Polizei immer weiß, wo sich Personen gerade befinden.

Ihm auf den Fersen ist der Bundesagent Danny Witwer (Colin Farrell), der nicht nur die Auswirkungen des PreCrime-Systems in Frage stellt, nämlich das Verhaften völlig unschuldiger Personen, sondern auch dessen Grundlage stark kritisiert: Er ist der Meinung, daß eine Technologie, die sich so auf menschliche Fähigkeiten verläßt, nicht perfekt funktionieren kann, denn Menschen machen Fehler. Es ist Teil des Menschseins. Was, wenn die Pre-Cogs sich nicht einig sind in ihren Visionen? Kann es nicht sein, daß Menschen eine alternative Zukunft haben könnten als von den Pre-Cogs vorhergesehen? Kann es sein, daß Menschen entscheiden können, wie sie handeln? Ist die Beeinflußbarkeit und Veränderbarkeit der Zukunft nicht schon allein dadurch bewiesen, daß PreCrime Verbrechen vorzeitig verhindert und somit die von den Pre-Cogs gesehene Zukunft gar nicht eintritt? Im Falle von PreCrime sind Antworten auf diese Fragen nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen.

Die Pre-Cogs sind in ihren Visionen den menschlichen Abgründe ausgeliefert.



In Dicks Geschichte sind die Figuren nur Marionetten in einem System, das alles und jeden überwacht, das jedem immer einen Schritt voraus ist, alles von langer und noch längerer Hand geplant hat und in dem es hinter jeder Verschwörung eine noch viel weiterreichendere Verschwörung gibt. Selbst seinen Arbeitskollegen, Freunden und sogar der eigenen Ehefrau kann man nicht trauen.

Bei Spielberg ist der Mensch solange unschuldig, bis er sich schuldig macht. Bis dorthin besteht Raum zur Veränderung und Entwicklung – und selbst nach der Schuld gibt es immer die Möglichkeit zur Wiedergutmachung. Der Spielbergsche Mensch hat das Potential, sich stetig zum Guten zu entwickeln, was bei ihm auch immer einen Dienst an und für andere, an und für die Gesellschaft inkludiert und sich nicht nur auf die inneren Aspekte der Persönlichkeit bezieht.

Wenn Dicks Protagonist dem System entkommt, hat er seinen Hals gerettet, aber das korrupte, fehleranfällige System besteht weiter. Der Mensch ist zu ohnmächtig das große Ganze zu ändern. Bei Spielberg legt der Protagonist die Mängel und Unmenschlichkeit des Systems offen und bringt es zu Fall: Hier gibt es immer eine alternative Zukunft, die wir selbst entscheiden und beeinflussen können.

John Anderton und Pre-Cog Agatha (Samantha Morton) sind auf sich allein gestellt.

Wäre unsere Eingangsgeschichte "Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt" tatsächlich eine Geschichte von Philip K. Dick, würde sie vielleicht damit enden, daß ein unkontrollierter Narzisst mit dieser Technologie die Macht in der größten Atommacht der Welt an sich reißt. Und hätte Spielberg diese Geschichte dann verfilmt, würde bei ihm diese Technologie am Ende dafür genutzt, die Ressourcen und Möglichkeiten der Menschen zu füttern und zu mobilisieren – und nicht länger nur ihre Ängste.


Mehr Steven Spielberg auf Wilsons Dachboden:
DUELL: Der archaische Kampf zwischen Mann und Monster
JÄGER DES VERLORENEN SCHATZES: Mythologie und Symbole
A.I. - KÜNSTLICHE INTELLIGENZ: Verstand vs. Gefühl
CATCH ME IF YOU CAN: Ein Hochstapler und das Abenteuer seines Lebens
INDIANA JONES UND DAS KÖNIGREICH DES KRISTALLSCHÄDELS
Lichtspielplatz #4 - BRIDGE OF SPIES und die Politik von Steven Spielberg (Podcast)



Minority Report (USA 2002)
Regie: Steven Spielberg
Buch: Scott Frank & Jon Cohen, nach einer Geschichte von Philip K. Dick
Musik: John Williams
Kamera: Janusz Kaminski
Darsteller: Tom Cruise, Max von Sydow, Colin Farrell, Peter Stormare, Samantha Morton

Lichtspielplatz #12 - THE STAR WARS HOLIDAY SPECIAL

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Derzeit läuft mit ROGUE ONE ein neues STAR-WARS-Spin-Off in den Kinos - und das dürfte den Berichten (inklusive dem unseren hochgeschätzten Gastautoren Bastian G.) zufolge um ein, zwei Längen besser ausfallen als das allererste Spin-Off, das schon ein Jahr nach dem originalen KRIEG DER STERNE folgte. Das semilegendäre THE STAR WARS HOLIDAY SPECIAL war als Weihnachts-Sondersendung fürs Fernsehen konzipiert und genießt unter denen, die es gesehen haben, einen eher zweifelhaften Ruf. Grund genug für den Lichtspielplatz, sich diesem unter den Teppich gekehrten Kapitel der STAR-WARS-Geschichte ausführlich zu widmen und dabei ein paar Überlegungen anzustellen, warum es schiefgegangen sein könnte - und welche Diskrepanz im STAR-WARS-Universum dafür verantwortlich sein könnte.

Viel Spaß!



Das mp3 kann HIER heruntergeladen werden.

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Lichtspielplatz Bonusfolge #2 - Unser Jahr 2016

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Zum Jahresabschluß blicken mein Podcast-Kollege Dr. Wily und ich zurück auf die letzten zwölf Monate. Was haben wir gesehen, was hat uns bewegt und beschäftigt? In einem kleinen Streifzug lassen wir unsere Jahreshighlights noch einmal Revue passieren - wobei nicht nur Neuveröffentlichungen angesprochen werden, sondern auch ältere Filme, die unser Jahr geprägt haben.

Viel Spaß und vielen Dank für's Zuhören in unserem ersten Podcastjahr - wir hören uns 2017 wieder!


Das mp3 kann HIER heruntergeladen werden.
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NOCTURNAL ANIMALS: Psychogramm trifft Thriller

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Über den Vorspann wälzen sich unansehnliche nackte Körper – dicke, faltige, alternde Frauen, inszeniert wie groteske Models. Es ist eine perfekt gestylte Show des Häßlichen – und damit das passende Bild für das Leben der Kunstgaleristin Susan (Amy Adams). Alles in ihrem hochklassigen Leben ist minutiös durchgestylt, vom Outfit über die Wohnung hin zum Ehemann. Dabei ist alles nur Fassade: Der Mann ist treulos, das Leben ganz leer.

Dann kriegt Susan ein Geschenk ihres Ex-Manns Edward (Jake Gyllenhaal), den sie einst für ihren jetzigen Mann verlassen hat und mit dem seit Jahren kein Kontakt mehr besteht. Edward schickt ihr das Manuskript seines neuen Romans "Nocturnal Animals", und der ist eine brutale Rachegeschichte über einen Mann, dessen Frau und Tochter entführt werden. Die Geschichte ist Susan gewidmet – und während sie das Buch liest, kommen die Erinnerungen an ihr früheres Leben mit Edward wieder hoch. Aber warum schickt der ihr überhaupt das Manuskript?

Galeristin Susan (Amy Adams) lebt in der perfekt durchgestylten Künstlichkeit.

Mit seiner zweiten Regiearbeit NOCTURNAL ANIMALS entspinnt Modedesigner Tom Ford eine faszinierende Geschichte, in der mehrere Erzähl- und Zeitebenen ineinander übergreifen: die perfekte Kunstwelt steht dem rauen Setting des Romans gegenüber, und während des Lesens wird Susans Vergangenheit immer wieder in Flashbacks lebendig. Es ist, als würde hier Woody Allens EINE ANDERE FRAU mit Motiven aus Michael Winners EIN MANN SIEHT ROT erzählt werden – das Psychogramm eines ins Wanken geratenden Lebensentwurfs trifft auf einen intensiven, zornigen Thriller.

Daß Jake Gyllenhaal sowohl in der tatsächlichen Welt wie auch der fiktiven Handlung den Ehemann spielt, ist nur konsequent: Ganz offensichtlich hat sein Buch etwas mit der gemeinsamen Vergangenheit mit Susan zu tun. Nur was? "Niemand schreibt je über etwas anderes als sich selbst", sagt er in einer Rückblende – und damit rückt die Frage immer stärker in den Vordergrund, was es mit dem Edward der tatsächlichen Gegenwart auf sich hat. Ist er wütend? Verbittert? Versöhnlich?

In der Romanhandlung: Cop Bobby Andes (Michael Shannon, links) und Tony Hastings (Jake Gyllenhaal, rechts)
knöpfen sich den Kriminellen Ray Marcus (Aaron Taylor-Johnson) vor.

Ebenso faszinierend wie die kühlen Bilder und die rätselhaften Doppelungen verschiedener Motive in den beiden Ebenen sind die schauspielerischen Darbietungen. Daran, dass Jake Gyllenhaal und Amy Adams mit nur wenigen Blicken so viel über das Innenleben ihrer Figuren erzählen können, hat man sich ja beinahe schon gewohnt. Aber auch Michael Shannon als knochentrockener Cop und Aaron Taylor-Johnson als abstoßender Widerling sind absolut faszinierend: Man achte darauf, wie beiläufig Shannon in einer wichtigen Szene eine persönliche Angelegenheit erwähnt und abtut, und wie furchteinflößend Taylor-Johnson zwischen gespielter Lässigkeit und vielsagendem Augenausdruck wechselt.

NOCTURNAL ANIMALS ist ein bemerkenswerter Film, der psychologische Schärfe mit eigener Optik und souveräner Erzählweise kombiniert. Als Regisseur muß man Tom Ford wortwörtlich im Auge behalten.



Nocturnal Animals (USA 2016)
Regie: Tom Ford
Buch: Tom Ford, nach einem Roman von Austin Wright
Kamera: Seamus McGarvey
Musik: Abel Korzeniowski
Darsteller: Amy Adams, Jake Gyllenhaal, Michael Shannon, Aaron Taylor-Johnson, Isla Fisher, Ellie Bamber, Armie Hammer, Laura Linney, Michael Sheen, Jena Malone

Die Screenshots stammen aus dem offiziellen Teaser-Trailer.

WONDERLAND: Ein Rätsel ohne Erkenntnis

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Am 1. Juli 1981 kamen in einem Apartment in Laurel Canyon vier Menschen auf grausame Weise ums Leben, eine fünfte Person überlebte mit schwersten Verletzungen. Die Opfer gehörten zur sogenannten "Wonderland Gang", einer Drogenschieberbande, die zuvor den lokalen Gangsterboss Eddie Nash ausgeraubt hatte. Wer genau für die Morde verantwortlich ist, bleibt ungeklärt – aber es kann davon ausgegangen werden, daß es sich um einen Racheakt für den vorangegangenen Diebstahl handelte. Und: Auf irgendeine Weise war Pornodarsteller John C. Holmes in die Sache verwickelt, der in den Siebzigern mit seinem 33-Zentimeter-Penis berühmt wurde und zur Zeit der Morde in einem tiefen Drogensumpf steckte.

2003 stellte Regisseur James Cox die Geschichte in dem Thriller WONDERLAND nach. Der begeht gleich mehrere Fehler – und es ist beinahe faszinierend, daß die überhaupt zusammenpassen. Einerseits hält uns der Film mit mehreren möglichen Tathergängen auf Trab, nur um dann am Schluß tatsächlich eine Erklärung für die in Wirklichkeit nie aufgelösten Geschehnisse anzubieten. Zur gleichen Zeit schafft es der verschachtelt erzählte Film, daß man hinterher auch nicht mehr über die Wonderland-Morde weiß als vorher.

Gangster David Lind (Dylan McDermott, links) erzählt der Polizei seine Version der Wonderland-Geschichte.

Der Ansatz des schick inszenierten Films ist der, die Chronologie aufzubrechen und erst ein überlebendes Mitglied der Gang im Polizeiverhör von den Geschehnissen berichten zu lassen, bevor dann John Holmes in einem separaten Verhör eine andere Version der Ereignisse berichtet. Zum Schluß erhalten wir aber noch Informationen, aus der sich eine plausible Variante ableitet. Das Rätsel steht hier also weit mehr im Vordergrund als etwaige Einblicke in die handelnden Personen.

Überhaupt wirken viele Figuren nur wie Chiffren, sogar John Holmes bleibt ein Spielball der Erzählweise. Die erste Hälfte registrieren wir ihn nur als zugekoksten Gauner, der irgendwie auch zu der Geschichte gehört – und wenn seine Figur dann später größeren Raum einnimmt, liegt der Fokus ja schon längst auf widersprüchlichen Berichten und nicht auf dem, was tatsächlich in Holmes vorgehen könnte.

John Holmes (Val Kilmer) und seine hörige Freundin Dawn (Kate Bosworth).

Die interessantesten Szenen sind die mit den beiden Frauen in Holmes' Leben: seine Ehefrau Sharon, die von ihm getrennt lebt und seinen ständigen Eskapaden satt hat, aber sich manchmal doch überreden lassen kann, ihm zu helfen, und seine junge Freundin Dawn, die ihm so hörig ist, daß sie sich von ihm sogar prostituieren läßt. Tatsächlich will Holmes mit beiden Frauen zusammen ins Zeugenschutzprogramm – und in den Szenen, in denen spürbar wird, warum Sharon und Dawn sich immer wieder in Holmes' Wahnsinn hineinziehen lassen, zeigt der Film seine besten Momente. Die Frauen sind hier die komplexesten und spannendsten Figuren, und an ihnen merkt man, welch dramatisches Potential WONDERLAND gehabt hätte.

Leider wird auch davon einiges durch die Erzählweise verschenkt: Wenn sich Dawn von Holmes für eine Nacht an Eddie Nash verkaufen läßt, weil Holmes Geld für Drogen braucht, dann verpufft die Wirkung dieser Abgründe, weil die Szenen als Rückblenden einer Erzählung eingebaut sind und der eigentliche Inhalt der Sequenz gerade ein anderer ist.

Gangster Eddie Nash (Eric Bogosian, rechts) trifft John Holmes (Val Kilmer) und eins seiner Groupies (Paris Hilton).

Letztlich kriegt man das Gefühl, daß Cox und sein Co-Autor Captain Mauzner schlichtweg die Faszination der Ausgangsgeschichte überschätzt haben. Das Rätsel um den Tathergang der Wonderland-Morde ist nicht sehr spannend: Was immer passiert ist, es dreht sich um zwei Gangsterbanden, von denen die eine sich an der anderen gerächt hat. Wie sie Zugang zum Apartment hatten oder welche Bandenmitglieder genau beim Angriff dabei waren, stellt kein interessantes Mysterium dar – vor allem nicht in einem Film, der an den einzelnen Personen gar nicht interessiert ist.

Man kriegt den Verdacht nicht los, daß sich die Öffentlichkeit wenig um die Wonderland-Morde scheren würde, wenn nicht ausgerechnet ein legendärer Pornohengst auf irgendeine Weise involviert gewesen wäre. Auch in Bezug auf ihn kümmert sich der Film mehr um die Frage "War er dabei?" als um die viel spannenderen Themen – zum Beispiel, wie Holmes so tief nach unten fallen konnte.

Fast alles an Holmes' Geschichte ist erschütternder als das, was hier als verzahntes Gangster-RASHOMON aufgezogen wird. Man würde sich wünschen, ein Drama über ihn und seine Frauen zu sehen, einen Horrortrip der Abhängigkeiten, in dem Wonderland dann nur am Ende eines langen Absturzes auftaucht.



Mehr über John C. Holmes auf Wilsons Dachboden:
WADD: THE LIFE AND TIMES OF JOHN C. HOLMES: Der tiefe Fall eines verlorenen Pornostars




Wonderland (USA 2003)
Regie: James Cox
Buch: James Cox, Captain Mauzner, Todd Samovitz, D. Loriston Scott
Musik: Cliff Martinez
Kamera: Michael Grady
Darsteller: Val Kilmer, Kate Bosworth, Lisa Kudrow, Josh Lucas, Tim Blake Nelson, Dylan McDermotte, Christina Applegate, Eric Bogosian, Carrie Fisher, Janeane Garofalo, Faizon Love, Natasha Gregson Wagner, M.C. Gainey, Paris Hilton

Die Screenshots stammen von der DVD (C) 2005 Paramount.

SCHIMPF 0221-19717: Der gemütliche Nachmittagsplausch

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Björn-Hergen Schimpf im Studio von SCHIMPF 0221-19717

Es war ein liebgewonnenes Ritual meiner Schulzeit: Dank ausufernder Bustouren durch das oberbayrische Hinterland, bei dem einsame Schüler an noch einsameren Haltestellen abgesetzt wurden, deren Namen auf -eck und -ham endeten, dauerte es oft bis kurz vor 2, bis ich mittags endlich zuhause war. Meine Eltern arbeiteten tagsüber, also glitt ich freudig in den Fernsehsessel, um den Geist von den Prüfungen meiner bewegten Schulkarriere – dadaistische Lateinübersetzungen, antiolympische Leistungen im Sportunterricht, konzentrationshemmende Anwesenheit liebreizender und ganz und gar heimlich angebeteter Mitschülerinnen – befreien zu können. Pünktlich um 14.03 Uhr begann jeden Werktag im ARD die 25-minütige Talkshow SCHIMPF 0221-19717 (kurz auch SCHIMPF 19717), in der Moderator Björn-Hergen Schimpf gemütlich über Gott und die Welt plauderte.

Bis auf das Team war er alleine im Studio: Seine Gesprächspartner waren Zuseher, die von zu Hause aus bei ihm anriefen, und er schaltete sie über eine kleine Konsole hinzu. Solche Call-In-Shows waren Mitte der Neunziger recht beliebt – zumindest bei den Sendern: Es kostet ja beinahe nichts, das zu produzieren, und das Mitteilungsbedürfnis der Menschen hatte noch kein Ventil durch Internet und soziale Medien gefunden. Auf Premiere – das hatten wir natürlich damals nicht – gab es den 0137 NIGHT TALK mit Bettina Rust, bei VOX plauderte Thomas Aigner in TALKLINE, und RTL schickte Joachim Steinhöfel ins Streitgespräch mit den Anrufern von ACHTZEHN 30 – DAS TELEFON-THEMA.

Gestritten wurde bei Schimpf nicht. Im Gegenteil: Es war die pure Entspannung, ihm beim Plausch zuzusehen. Zu Beginn goß er sich eine Tasse Kaffee ein, an der er während der Gespräche nippte. Er setzte sich in seinen Sessel, dann ging er ein wenig vor dem Schreibtisch auf und ab. Die Themen waren vielfältig und völlig alltäglich: Mal ging es um die Ladenschlußzeiten, ein anderes Mal um Liebeskummer, und Schimpf nahm alles entgegen seines Namens ganz locker. An der Studiowand suggerierten vier Uhren die große weite Welt, aber sie waren mit "Oberammergau", "Eisenhüttenstadt" und "Winsen/Luhe" beschriftet – letzteres übrigens Schimpfs Geburtsort. Daneben hatte man Fensterblick auf Köln – aber das Fenster war nur ein Bildschirm.

Björn-Hergen Schimpf vor den Wanduhren
Von Oberammergau bis Eisenhüttenstadt: Björn-Hergen Schimpf spricht mit Deutschland.

In einer Sendung vom August 1994, die ich noch auf Band habe, geht es um das Thema "Fitneßwahn". Die Kaffeetasse muß ruhen, weil Schimpf während der Gespräche einen orangefarbenen Handmuskeltrainer quetscht. Viel Debatte kann um das Thema herum nicht entstehen, zumal eine Anruferin namens Ursula schon recht früh Worte findet, denen man beinahe nichts mehr hinzufügen möchte: "Alles, was übertrieben ist, das ist doch extrem."

Die meisten Anrufer haben mehr Redebedürfnis als Schimpf Sendezeit. Außerdem gehen manche recht assoziativ an das Thema heran: Es wird schon irgendwie passen, was sie sagen. Der Gemütlichkeit tut dies keinen Abbruch: Schimpf steuert seine Gesprächspartner souverän zum Thema zurück und hakt fleißig ein, um den anrufenden älteren Damen das Monologisierungsmonopol zu entziehen. "Ich bin 54, ja …", setzt eine an, aber da ist er großzügig: "Kein Problem."

Ein Offenbacher erzählt ihm breitesten Dialekt, wie sich die Mädels im Fitneßstudio so anziehen, "daß man jede Rundung sieht", und sich dann an der Theke beschweren, daß ihnen die Männer hinterherschauen. Da hält er es lieber mit dem guten alten Winston und verzichtet auf den Sport. Ein 12-jähriger Junge namens Aaron dagegen berichtet stolz, daß er täglich 500 Meter mit dem Fahrrad fährt. Worum ging es doch gleich?

Mehr Diskussionsbedarf besteht in einer anderen Sendung aus demselben Zeitraum, die ebenfalls in den schier unendlichen VHS-Archiven von Wilsons Dachboden schlummert: Da will Schimpf über eine Steuer reden, die die Stadt Kassel auf die Wegwerfutensilien der Würstchenbuden erhoben hat. Dürfen die das? Und wollen wir das? Bei dem Thema ist Schimpf so in Fahrt, daß er beinahe die Einleitung zur Sendung vergißt: "Hab' ich schon 'Guten Tag' gesagt?"

Moderator Björn-Hergen Schimpf
"Schmeckt wie Oblaten": Björn-Hergen Schimpf ist von den Qualitäten des eßbaren Geschirrs nicht überzeugt.

In der Debatte tauchen tatsächlich Ideen auf. Christine aus Mettmann ist für eßbares Geschirr: "Wir sind zwar mündige Bürger, aber irgendwie müssen wir doch erzogen werden", meint sie. Erika aus Wiesbaden mag offenbar keine Pappteller essen und setzt stattdessen lieber auf Pfandgeschirr oder solches, das sie selber mitgebracht hat.

Ein kleiner Junge namens Stefan hat die perfekte Lösung: "Wenn die Steuer erhoben wird, dann aber nur auf die Unternehmen, die die Verpackung erst überhaupt herstellen". Den Einwand, daß die Budenbesitzer die Steuer dann nur durch teurere Würstchen an den Verbraucher weitergeben würden, läßt Stefan im Glauben an die Macht des Konsumenten nicht gelten: "Dann kauf ich halt keine mehr, und wenn er das macht, dann geht das Geschäft zugrunde und dann kann er seinen Mercedes erst recht nicht kaufen."

Willi aus Schöningen findet, das eßbare Geschirr muß erstmal geschmacklich verbessert werden. "Ich krieg' langsam Hunger bei dem Thema", grinst Schimpf. Manchmal verschenkt er an Anrufer, die ihm besonders sympathisch sind, eine Kaffeetasse mit Käpt'n-Blaubär-Motiv – aber heute mag er wohl nicht. Ein Zuseher namens Hansjörg hat ganz visionäre Lösungsvorschläge: Die Menschheit muß eben "wirklich mal Dinge erfinden und bauen, die wirklich langfristig einsetzbar sind". Schimpf bleibt lieber in seinem 25-minütigen Tagesprogramm: "Gut, das war ein Ausflug in die Zukunft."

Ralf aus Dortmund ekelt sich vor dem Einsatz von Porzellangeschirr, das womöglich in der Bude nur halb abgespült wird. Schimpf meint, daß Ralfs Mutter sicher früher auch noch mit der Hand abgewaschen hat. "Meine Mutter hat das ja noch halbwegs korrekt gemacht", stellt Ralf klar. Aber in so einer Currywurstbude? "Da springt dir sofort der Herpesvirus vom Nachbarn entgegen." Man ahnt, warum Premiere-Sprecher André Schirmer 1994 dem Focus erklärte: "Irgendwie sind Call-In-Sendungen auch ein Stück Reality-TV."

Ein paar Mal probierte ich auch, anzurufen und am Gespräch teilzunehmen. Ich weiß leider nicht mehr, zu welchen Themen. Irgendwann 1995 setzte der ARD die 1993 gestartete Sendung ab, und meine Nachmittage mußten ohne Plausch auskommen (und begannen dafür gleich mit einem Video). Über 20 Jahre später fällt mir SCHIMPF immer noch ein, wenn es darum geht, wie sympathisch unaufgeregt Fernsehen sein kann. "So würde man heute nie im Leben mehr eine Talk-Sendung aufziehen", sage ich dann und nippe dazu weltmännisch an meiner Tasse Kaffee.




Die Screenshots stammen von einer Videoaufzeichnung der Sendung vom 5. Juli 1994, (C) ARD.


EIN KÖNIGREICH VOR UNSERER ZEIT: Vom Kampf gegen Magier, Monster und Archivmaterial

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Lana Clarkson als Prinzessin Amalthea

Nachdem er sich schon den ersten Teil vorgeknöpft hat, ist Gastautor Don Arrigone der geeignetste Mann, auch über das Pseudo-Sequel WIZARDS OF THE LOST KINGDOM II ein paar kritische Worte zu verlieren. Ich übergebe das Wort an den sparfilmgestählten Don:


Als mich Herr Genzel vor kurzem fragte, ob ich nicht WIZARDS OF THE LOST KINGDOM II (in Deutschland sinnigerweise sowohl bekannt als EIN KÖNIGREICH VOR UNSERER ZEIT als auch als EIN KÖNIGREICH VOR UNSERER ZEIT II und damit das erste uns bekannte Ipsumquel) rezensieren könnte, dachte ich anfangs, ich hätte das bereits getan. Als ich merkte, daß dem nicht so war, fürchtete ich kurz, ich würde wohl langsam alt werden. Dann sah ich mir aber wieder einmal durch, was wir bereits an 80er-Jahre-Fantasy-Trash rezensiert haben, und bin mir nun sicher, eigentlich schon alles über WIZARDS OF THE LOST KINGDOM II gesagt zu haben, was es zu sagen gibt – wenn auch über andere Filme. Immerhin hat Produzent Roger Corman ja auch nicht immer wieder bei Null angefangen. Aber gut, es hat ja jeder Film sein Recht auf eine eigene Rezension.

Everyone's happy when the wizard walks by.

Wie schon WIZARDS OF THE LOST KINGDOM, mit dem der Film hinsichtlich Handlung, Schauspielern und Charakteren rein gar nichts zu tun hat, beginnt die Angelegenheit mit einem Zusammenschnitt diverser Streifen, an denen Corman noch die Rechte in einer Schublade liegen hatte, und einer epischen Hintergrundgeschichte über drei Reiche, drei Artefakte und drei böse Magier, allesamt versehen mit unaussprechlichen Namen, um zumindest den Anschein von Komplexität zu erwecken (Spoiler: Der Schein trügt).

Nach dieser kurzen Exposition wird uns der Magier Caedmon vorgestellt: ein dicklicher, einfältiger, unfähiger alter Mann. Damit würde er sich zumindest als geistiger Nachfolger zu Gulfax aus dem ersten Teil eignen, auch vom Körpermaß her, doch meine Hoffnung, daß er sich ein Schafskostüm überwirft, wird enttäuscht. Schade, es hätte den Film zweifellos besser gemacht. Nun, ihm erscheint sein alter Meister Vanir in einem Kessel und befiehlt, einen Jungen namens Tyor zu finden, da dieser die Artefakte bergen, die Reiche einen und das Böse bezwingen könne (undsoweiterundsofort). Er endet seine Ausführungen mit einem guten Ratschlag, den wir uns jeden Morgen zu Herzen nehmen könnten: "Jetzt trink deinen Kaffee und dann geh".

Ein Wächter als traurige Alternative zu Schafsmann Gulfax.
Statt Gulfax bekommen wir das?!

Caedmon zieht durch die Reiche und findet den Knaben tatsächlich (wäre auch sonst wohl ein noch langweiligerer Film geworden). Zu zweit trauen sie sich allerdings noch nicht zu, das Böse tatsächlich zu bezwingen, also sucht man sich noch Hilfe von einem großen Krieger: dem Finsteren. Dieser wird von David Carrandine verkörpert – eigentlich hätte man ihn alleine aufgrund der Auswahl seiner Rollen vielleicht einmal auf seine masochistische, selbstzerstörerische Ader ansprechen sollen, aber vielleicht soll man die Dinge nicht überinterpretieren und der Scheck war einfach gut. Nun, damit hätte der Film einen Star, aber überraschenderweise weigert sich der Finstere vorerst, das vom ihm betriebene Wirtshaus aufzugeben und mit den Helden zu ziehen. Wahrscheinlich war der Scheck doch nicht so gut. Unter Umständen ist es aber auch der Tatsache geschuldet, daß Tyor es nicht lassen kann, die Frau des Finsteren lüstern anzustarren. Das ist übrigens ein Element, das sich wiederholen wird: Tyor, der junge, unschuldige Knabe, die Verkörperung der guten Mächte und der nächste große Weißmagier, läßt seiner verfrühten Pubertät vollkommen freien Lauf und ist auf jeden weiblichen Charakter spitz wie Nachbars Lumpi – und ich kann "jeden" nur betonen. Während ein notgeiler Held durchaus lustig sein kann, ist ein notgeiler Knabe als Protagonist am Ende des Tages schlicht und ergreifend verstörend.

Nun, man reist also in braver Videospielmanier in das erste vom Bösen besetzte Reich. Dort soll man Prinz Erman befreien, um die Revolte gegen den Herrscher anzuführen, und, weil man schon dabei ist, auch noch gleich drei junge hübsche Damen. Praktischerweise werden aber ohnehin alle im selben Stall festgehalten. Bewacht werden sie von einem Mann im Wolfskostüm und einem im Schweineköstum – beide leider nicht so unterhaltsam wie die Wuschelviecher aus dem ersten Teil. Einige magische Sprüche später zerfleischen sich die beiden Ungetümer gegenseitig (bzw. wrestlen zwei kostümierte Männer, die unter der Maske wohl nicht sonderlich gut sehen konnten, dafür aber zumindest auch nicht vom Publikum gesehen werden können) und Erman beansprucht die Rettung der Damen für sich, sehr zum Mißfallen von Tyor Dauergeil. Erman hat kurz Probleme damit, möglichst unauffällig drei nebeneinander stehende Frauen gleichzeitig zu becircen, führt dann aber brav wie gefordert die Revolte an. Tyor und Caedmon plätten derweil den ersten fiesen Magier und erhalten ein Amulett.

Lana Clarkson als Amazone Amalthea
Die Amazonen-Episode spricht ob ihrer komplexen Handlung ein männliches Publikum besonders an.

Wenig überraschend geht es weiter in das zweite Reich. Auf dem Weg dorthin hat Tyor einen Traum, da noch Szenen aus BARBARIAN QUEEN verwurstet werden mussten, dann treffen sie auch schon auf die Amazone Amalthea, gespielt von der ansehnlichen Lana Clarkson. Die bietet wiederum an, den Aufstand des Volkes zu organisieren (bzw. hat sie das in BARBARIAN QUEEN bereits getan und jetzt könnte man es ja noch einmal zeigen) und dabei möglichst oft Hintern und Brüste in die Kamera zu halten, Tyor soll sich derweil um den Magier Donar kümmern. In dessen Schloß trifft er dann allerdings auf die Zauberin Freyja, der es überraschenderweise fast gelingt, den hormongesteuerten jungen Mann zu verführen. Nur die Erscheinung seines Meisters Vanir "erlöst" ihn von ihrem, ähm ... grausamen Bann. Der chronisch rattige Tyor zwingt Freyja anschließend, ihm das magische Schwert auszuhändigen, das zweite Artefakt. "Er konnte meinem Sex widerstehen", resümiert die Dame dann betroffen. Wäre nicht gleich zu Beginn der Befehl mit dem Kaffee, ich hätte gesagt, daß das Synchro-Team spätestens an dieser Stelle aufgegeben hat (in Wahrheit haben sie es wohl nie probiert). Nun, auf jeden Fall ist ihr Chef, der Magier Donar (Sid Haig), nicht begeistert. Sie versucht es mit der Ausrede "ich hatte Migräne", Donar läßt dies aber nicht gelten: Kurzerhand schlägt er ihr ins Gesicht und meint unbeeindruckt: "Jetzt hast du Migräne." Zumindest einer schien an den Dreharbeiten Spaß gehabt zu haben. Gegen Ende der Episode sieht Freyja übrigens noch ein, daß Tyor ja ohnehin minderjährig war. No shit, Sherlock.

Auf geht es ins dritte ... von einem bösen Herrscher besetzte Land. Auf dem Weg dorthin schließt sich glücklicherweise nun doch noch der Finstere an, da er inzwischen sein Wirtshaus schließen mußte, weil er die Steuern nicht mehr bezahlen konnte und von Idunas Vater nicht für einen Versager gehalten werden will. Endlich einmal ein Held, dessen Motive auch für Arbeiter, Angestellte und Kleinunternehmer der neoliberalen Wirtschaftswelt einmal nachvollziehbar sind. Außerdem waren noch Szenen aus DER KRIEGER UND DIE HEXEübrig. Dementsprechend gibt es in der Stadt einen für den restlichen Film ungewöhnlich blutigen Kampf an einem Brunnen und ein Duell gegen ein aus Schläuchen und einem Maul bestehenden Monster, das auch in diesem Film konsequenterweise als "Beschützer" tituliert wird (wie schon im Originalmaterial), und das nach diesem Film wohl nach Japan verkauft wurde, um eine zweifelhafte Karriere anzutreten. Die Auseinandersetzung mit dem bösen Magier Zarz (und damit die neuen Szenen) übernehmen in erster Linie wieder Tyor und Caedmon, da die beiden wohl am billigsten waren.

Verführung Minderjähriger für Anfängerinnen: die Zauberin Freyja (Diana Barton).

Es kommt zum zentralen Konflikt des Filmes, der bisher nur angekündigt, nicht aber wirklich vorbereitet wurde: Tyor Immerscharf muß sich der Wahl zwischen Gut und Böse stellen und entscheiden, ob er den wiedergekehrten Donar nun umbringt oder nicht. Einem vorhersehbareren Konflikt mußte sich höchstens der junge Anakin Skywalker stellen. Im Gegensatz zu ihm entscheidet sich Tyor aber nachvollziehbar für das Gute (immerhin waren keine Busen im Spiel). Nachdem Tyor im Endkampf klassisch kurz zu unterliegen scheint, hext er sich einen beeindruckenden Bizeps und schleudert sein Schwert gen Zarz. Der schurkische Zauberer wird durchbohrt und stirbt, die Helden triumphieren.

Kurz kommt es noch zur Diskussion, was denn nun aus den drei Reichen werden soll, aber die Erscheinung des Magiers Vanir, der aussieht, als wolle er demnächst in eine Doom-Metal-Band wechseln (wer könnte es ihm verdenken?), löst das Problem: Der Finstere soll entscheiden. David Carradine hat dann auch eine atemberaubend einfache Idee: Erman wird König und heiratet Amalthea, und er und Iduna machen wieder ein Wirtshaus auf. Für Tyor geht die Reise weiter, sollte noch irgendwann Geld für ein Sequel übrig sein (über 25 Jahre später kann man davon ausgehen, daß dem nicht so war). Der Film endet mit einem Witz über Franzosen. Ja, ernsthaft.

David Carradine als Kämpfer
David Carradine quält sich durch den Film.

Wie bereits beim Vorgänger haben wir es also mit einer sehr episodenhaften Handlung zu tun, ein größerer Bogen wird nicht gespannt. Tyor entwickelt sich als Charakter nicht weiter und überwindet keine inneren Konflikte. Er wird lediglich von Auseinandersetzung zu Auseinandersetzung ein wenig stärker. Zudem ist die Handlung der drei Episoden fast ident: Ein Krieger organisiert einen Aufstand, für den das Material aus bereits gedrehten Filmen verwendet wird, und die Helden stellen sich dem bösen Magier. Die Kämpfe aus den anderen Streifen stellen bezeichnenderweise jeweils den Höhepunkt dar, glänzen sie doch sowohl durch mehr Schauspieler als auch durch größeren Einsatz. Insbesondere Herr Carradine wirkt im Vergleich zu den Originalszenen aus DER KRIEGER UND DIE HEXE ein wenig außer Atem, zumindest Lana Clarkson gibt sich ein bißchen Mühe. Insgesamt hatte ich beim Sehen jedoch den Eindruck, daß keiner der Beteiligten sich große Illusionen über den Film machte: Der Anschein, daß man nur schnell eine Handvoll Dollar verdienen wollte, ist bei diesem Film besonders stark.

Hinzu kommt die Problematik, daß der Film keine klar erkennbare Zielgruppe hat. Der Vorgänger ging weitgehend noch als Fantasy-Abenteuer für Jungen durch, der zweite Teil ist dafür nicht niedlich genug und zu sexuell aufgeladen. Hinzu kommen die Szenen aus BARBARIAN QUEEN und DER KRIEGER UND DIE HEXE, in denen schon einmal Blut fließt. Einem erwachsenen Publikum hingegen ist das Teil wohl zu harmlos und zu handlungsbefreit. So war der Film wohl nur für Leute, die gerade unbedingt Fantasy aus der Videothek wollten – und selbst das könnte sich gerechnet haben bei so wenig Mühe, wie hier investiert wurde. Wenn tausend Affen tausend Jahre lang tausend Corman-Fantasy-Filme schneiden, kommt dann ein HERR DER RINGE heraus? Ich weiß es nicht, vermutlich aber etwas Besseres als WIZARDS OF THE LOST KINGDOM II.


Mehr Achtziger-Billig-Fantasy auf Wilsons Dachboden:
CONQUEST
KRULL
DER KRIEGER UND DIE HEXE
WIZARDS OF THE LOST KINGDOM
IM REICH DER AMAZONEN
TROLL - TEIL 3



Ein Königreich vor unserer Zeit (USA 1989)
Alternativtitel: Ein Königreich vor unserer Zeit II
Originaltitel: Wizards of the Lost Kingdom II
Regie: Charles B. Griffith
Buch: Charles B. Griffith, Lance Smith
Musik: David M. Rubin
Kamera: Geza Sinkovics
Darsteller: Mel Welles, Bobby Jacoby, David Carradine, Susan Lee Hoffman, Blake Bahner, Lana Clarkson, Sid Haig, Diana Barton

PORTS OF CALL: Navigation ist, wenn man trotzdem ankommt

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Ein leises Funken ertönt noch, dann sinkt die MS Scholle in einer herzallerliebsten Animation auf den Meeresboden, während ein Schwarm Fische sich über den kaputten Kahn wundert. Vielleicht hätte man mit einem Schiff, dessen Zustand schon auf 52% gefallen ist, nicht mehr probieren sollen, durch einen schweren Sturm zu schippern. Jetzt werden unsere Handelspartner in Karachi wohl sehr lange auf die versprochenen Textilien warten – während wir erstmal für teures Geld ein neues Schiff anschaffen müssen.

Die Amiga-Handelssimulation PORTS OF CALL versetzt den Spieler in die Rolle eines Reedereibesitzers, der seine Schiffe auf verschiedenen Handelsrouten rund um die Welt schickt. Man transportiert Waren wie Elektronik, Chemikalien, Agrarprodukte oder sogar Waffen und bringt diese für eine vorab angebotene Summe in andere Häfen – manchmal mit Termindruck, der bei Überschreiten einer Deadline zu empfindlichen Konventionalstrafen führen kann.

In Rio soll mein Schiff noch etwas Schmuggelware aufnehmen.

Damit man als Reeder keine allzu ruhige Kugel schieben kann, gibt es vor allem anfangs einige Probleme zu bewältigen. Für das Startkapital kann man nur vergleichsweise kleine Gebrauchtschiffe kaufen, die weniger Ladung transportieren können und schon reparaturbedürftig sind. Nicht jeder Auftrag spült immenses Geld in die Kassen: Wenn man die Kosten für Wartung, Sprit und etwaige Gebühren für die Passage durch einen Kanal abzieht, bleibt bei so mancher Nichteisenmetalltransport eine wenig ertragreiche Angelegenheit. Und während Waffenlieferungen in Krisengebiete einträglicher sind, läuft man dort stärkere Gefahr, von Piraten ausgeraubt oder gar im Kriegsgeschehen beschossen zu werden. Andererseits besteht in solchen Gegenden eine größere Chance, daß man für ein kleines Extra-Taschengeld Schmuggelware mitnehmen kann – die dann hoffentlich nicht vom Zoll entdeckt wird.

Selbst, wenn die Handelsrouten gut laufen und das Firmenvermögen anwächst, ist man als Reeder aber doch mehr in das tägliche Geschehen involviert, als der Laie meinen könnte. Immer wieder scheinen die angeheuerten Kapitäne mit ihren Aufgaben überfordert zu sein, weshalb der Chef persönlich eingreifen muß: Manchmal soll man sein Schiff zwischen plötzlich auftauchenden Eisbergen hindurchlenken, an anderen Tagen streiken die Hafenarbeiter, weshalb man seinen unhandlichen Frachter von Hand ein- oder ausparken darf. In diesen Fällen steuert man aus der Vogelperspektive das Ruder, gibt Schub voraus bzw. nach hinten und hofft, daß das sich träge drehende Schiff irgendwie um die wahnwitzigen Ecken herumkommt, die die Hafenkonstrukteure wohl als purem Sadismus gebaut haben.

I'm king of the world!

Zu den größten Herausforderungen zählt es, wenn man unterwegs einem Schiffbrüchigen begegnet. Hier gilt es, Kurs und Geschwindigkeit seines Kahns an jene des Rettungsbootes anzupassen – ansonsten treibt der Überlebende hinfort oder wird beim Zusammenstoß der Schiffe versenkt. Die Störrigkeit, mit der manche Schiffbrüchige sich geradezu weigern, aufgelesen zu werden, ist enervierend: Bis der eigene Frachter mal in Position gebracht ist, ist der Überlebende schon fast weg – und weil offensichtlich der Ozean am Bildschirmrand aufhört und es völlig außer Frage steht, dem Boot länger zu folgen, wird man vom Programm einmal mehr ausgelacht ("Seamanship does not seem to be one of your qualities") und erhält Punktabzug beim Statuslevel.

PORTS OF CALL bleibt eine ganze Zeitlang spannend: Wenn ein Schiff auf Terminfahrt im Zielhafen erstmal für einige Tage in Quarantäne geschickt wird, kann man bei finanzschwacher Lage ganz schön mitfiebern. Das Jonglieren mit den auf- und niederschnellenden Kosten für Schiffsreparaturen und Treibstoff erfordert etwas taktisches Geschick – vor allem, wenn man auf hoher See Stürmen ausweichen will, um größere Schäden zu vermeiden, und aber vor dem Aufbruch aufgrund der hohen Preise nicht vollgetankt hat, passiert es gerne, daß man seine Firma schneller in den Ruin treibt, als einem lieb ist. Umgekehrt ist man relativ abgesichert, sobald man den Dreh einmal heraus hat – und ab einem bestimmten Vermögen kann man auf die mühsamen Transporte ganz verzichten und lieber mit dem An- und Verkauf von Schiffen den Kontostand aufpolieren.

Meine Firma (grün) hat ein paar Schiffe mehr als die schlaffe Konkurrenz (rot).

Irgendwann fangen die Abläufe aber dann doch an, sich zu sehr zu ähneln und keine neuen Herausforderungen zu bieten. Das passiert vor allem, wenn man alleine spielt, weil es keine wirklichen Ziele gibt. Mit mehreren Personen (es können bis zu vier Spieler antreten) bleibt die Angelegenheit über einen längeren Zeitraum aufregend, aber auch hier tritt nach einiger Zeit das Gefühl ein, daß man nur noch alles wiederholt, um halt noch mehr Millionen zu scheffeln oder der Reederei noch eine weitere Frachtgondel zu spendieren. Wenn man im Spiel gegeneinander kein festes Ende angibt, zum Beispiel nach Ablauf von drei Spieljahren, läuft das Geschäft tatsächlich bis in alle Unendlichkeit weiter. Zugegebenermaßen ist das aber ein Abstrich, der bei so ziemlich jeder Handelssimulation gemacht werden muß.

Bis der "Abnutzungseffekt" eintritt, verbringt man aber doch eine vergnügliche Zeit mit dem liebevoll gestalteten Spiel. Freunde des Genres können daher bedenkenlos den Anker lichten. Übrigens: Rolf-Dieter Klein, einer der Programmierer des originalen Amiga-Spiels, hat PORTS OF CALL mittlerweile auch eine "XXL"-Version für moderne PCs (inklusive 3D-Einparken) und eine Variante für Handys und Tablets spendiert. Mehr darüber auf seiner Website.


Noch eine Amiga-Handelssimulation auf Wilsons Dachboden:
WINZER: Eiswein oder Ausguß?




Besten Dank an Erhard Furtner für die Screenshots.
 
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