Quantcast
Channel: Wilsons Dachboden
Viewing all 383 articles
Browse latest View live

DAS GEISTERSCHLOSS - Ein Film als begehbarer Raum

$
0
0

Wenn Filme Räume sind, die man wie eine Ausstellung neugierig durchschreiten kann, dann ist Jan De Bonts THE HAUNTING ein besonders lohnenswerter. Das liegt nicht unbedingt an der Story und auch nicht zwangsläufig an der Effektivität der Erzählung - nein, THE HAUNTING ist primär wegen dem sehenswert, was es, jawohl, zu sehen gibt, und dieser visuelle Aspekt ist eng verknüpft mit dem tatsächlichen Raum, in dem sich der Film abspielt. Orte nehmen in Geistergeschichten fast zwangsläufig Hauptrollen ein; viel mehr als die Figuren, die dort Spuk und Unheil erleiden müssen, sind es die Schauplätze selber, die der Geschichte ihren Charakter geben und die - im übertragenen wie im buchstäblichsten Sinne - am dreidimensionalsten gezeichnet sind.

Das "Hill House", wie das mondäne Anwesen im Film heißt, ist wahrlich ein phantastischer Ort, der gleichsam als majestätische Kathedrale wie als nachtschwarzer Albtraum erscheint, als detailverliebt ausgestattetes Kunstwerk wie als üppiger Prunkbau, als Platz des Staunens und als Platz der Leere. Das Äußere besteht aus Dutzenden von Zinnen und Erkern, innen drin ist jede Wand, jeder Bogen und jeder Kaminsims ein kunstvoll geschaffenes Ausstellungsstück. Wie ein jahrhundertealter Dom scheint das Haus zu suggerieren, daß bei der Erschaffung ganze Menschenleben verbraucht wurden - und wie in solchen Kirchen ist auch hier jeder Raum so gigantisch und jede Tür so groß, daß ein Mensch sich zwangsläufig klein und verloren fühlen muß.


Unsere Protagonisten Eleanor, Theo und Luke kommen nach Hill House, weil sie dort an einer psychologischen Studie teilnehmen: Dr. Marrow hat sie unter dem Vorwand eingeladen, daß er Schlafstörungen untersuchen will, während er in Wirklichkeit das Phänomen der Furcht erforschen will. Und die greift bei den drei Versuchspersonen schnell um sich, als sie feststellen müssen, daß das Haus eine tragische Vergangenheit hat und deswegen nicht zur Ruhe kommt ...

Es gilt als "überliefertes Wissen", daß Horrorfilme unter großem Budget und vielen Spezialeffekten zwangsläufig leiden. Aber wie so oft, wenn Meinungen darüber übernommen werden, was gemacht werden darf und was nicht, ist eine Hinterfragung durchaus sinnvoll - und das nicht nur, weil mit Tobe Hoopers POLTERGEIST und John Carpenters THE THING flugs zwei Filme angeführt werden können, in denen weder das große Studiogeld im Rücken noch die üppige Verwendung von Effekten dem Spuk irgendwie abträglich gewesen wären. Freilich ist es reizvoll, den Horror im Kopf geschehen zu lassen und psychologisch statt visuell auszukosten - aber das müssen so viele Filme ja zwangsläufig tun, weil sie wenig andere Mittel haben, und somit ist THE HAUNTING schon mit der Ambition interessant, den Grusel ins Bild zu zerren. Überhaupt scheint mir die wichtige Frage ja nicht die zu sein, wie viel oder wie wenig man sieht, sondern was uns damit erzählt wird: THE THING zum Beispiel ist sehr explizit und deutet doch weitaus mehr an.


Dabei ist De Bonts Film zunächst gar nicht so effektlastig, wie man meinen könnte, und den gruseligen Geschehnissen liegt eine originelle Kreativität zugrunde - zum Beispiel, wenn sich im flatternden Vorhang Geistergestalten abzeichnen, die dann auf das darunterliegende Bett huschen und die Decke entlangkriechen, oder wenn sich die Haare unserer Heldin beim Kämmen einen Spalt öffnen, als würde etwas hineinkriechen wollen. Später wird das Haus im wahrsten Sinne des Wortes lebendig: Ein netter visueller Gag zum Beispiel ist eine Sequenz, in der zwei Fenster plötzlich als Augen des bösen Geistes fungieren, der in dem Spukschloß umhergeht. Erst im Finale wird dann wirklich der ganz große Zauber losgetreten, und daß der dem Spuk keine wirklich befriedigende Präsenz bzw. dann auch Befreiung geben kann, liegt eher daran, daß die Auseinandersetzung zwischen Hauptfigur und Geist auf Storyseite nicht mehr viel Resonanz erzeugt.

Interessant ist bei allem Effektgewitter aber auch, wie geduldig De Bont seine Story aufzieht - es braucht eine halbe Stunde, bis sich das Übernatürliche überhaupt mal bemerkbar macht, und danach läuft die Geschichte keinesfalls nach dem Zehn-kleine-Negerlein-Prinzip ab, das so viele andere Horrorproduktionen auszeichnet. Vor allem zu Beginn wird da auch gekonnt mit der Suggestion gespielt - zum Beispiel in einer Sequenz, in der etwas von außen gegen die Zimmertür poltert, während innen der Raum so kalt wird, daß der Atem sichtbar wird. Das Sounddesign tut sein Übriges, das Haus als beinahe lebendiges Wesen zu inszenieren: Geräusche hallen nach, überall dröhnt und rumpelt es, und ständig scheint außerhalb des Bildes hörbar ein kalter Luftzug vorbeizugehen.


Auch wenn die Geschichte selber eher ins Skizzierte als ins Ausgefleischte läuft, bietet sie ein paar interessante Bausteine, die das Geschehen emotional ein wenig verankern. Die Hauptfigur Eleanor wird als unsichere und zurückgezogene Person gezeichnet, die sich ihr Leben lang um ihre kranke Mutter gekümmert hat; dieses umgedrehte Mutter-Kind-Verhältnis spiegelt sich in ihrer Funktion in der Geistergeschichte wieder, wo sie - nachdem sie herausfindet, daß in dem Haus Kinder gefangengehalten wurden und gestorben sind - sich der unruhigen Seelen annimmt und diese letztlich erlösen kann (es wird sogar an einer Stelle eingeführt, daß die Ehefrau des Hausherren ihre Ur-Ur-Urgroßmutter gewesen sein muß). Dem gegenüber steht Dr. Marrow, der gewissermaßen als Patriarch für die Gruppe verantwortlich ist - und sich dabei nicht nur als wenig hilfreich entpuppt, sondern auch eine gewisse Paralelle zum bösen Geist suggeriert, der zu Lebzeiten ebenso Personen (in dem Fall Kinder) unter falschem Vorwand ins Haus lockte.

Wirkliches Gewicht erhalten dann aber weder die Figuren noch der Storyverlauf - das Haus selber wird schnell zum raison d'être des Films. So mag THE HAUNTING als Erzählung nur ein solides Grundgerüst bieten, das irgendwann seine Figuren und Themen in den Hintergrund rückt - aber als begehbarer Raum, wenn man so will, oder als wahrnehmbares Objekt aus Bildern, Geräuschen und Stimmungen ist der Film eine faszinierende Evokation eines Ortes, von dem man immer mehr sehen will - was natürlich nur möglich ist, wenn man die Geister mit einem nochmaligen Filmstart wieder aufscheucht. Das Haus ist der beste und teuerste Spezialeffekt des Films - und damit ein Beweis, daß sich Aufwand und Phantasie nicht ausschließen.





Das Geisterschloß (USA 1999)
Originaltitel: The Haunting
Regie: Jan De Bont
Buch: David Self, nach dem Roman von Shirley Jackson
Kamera: Karl Walter Lindenlaub
Musik: Jerry Goldsmith
Darsteller: Liam Neeson, Catherine Zeta-Jones, Owen Wilson, Lili Taylor, Bruce Dern, Marian Seldes, Virginia Madsen
FSK: 12

Ein Computerspiel zum Zusehen: LARA CROFT: TOMB RAIDER - DIE WIEGE DES LEBENS

$
0
0

Ein Erdbeben vor der Küste Griechenlands bringt gleich zu Beginn des Films nicht nur Unruhe in eine kleine Hochzeitsgesellschaft, die sich soundtrackverkaufsfördernd zackige Elektronik anhört - nein, nebenbei wird auch der Zugang zu einer Unterwasserhöhle wieder freigerüttelt, die den Luna-Tempel von Alexander dem Großen beherbergt. Weil es damals noch keine Cloud-Lösungen gab, brachte Alexander dort Schätze unter, die er nicht in die Bibliothek von Alexandria stellen wollte. Zum Beispiel eine golden leuchtende Kugel, die als Karte zu dem Aufbewahrungsort der Büchse der Pandora fungiert - eine alte Schatulle, die der Legende nach Krankheiten und Unheil beinhalten soll. Ganz so wie die Collector's Box zur TWILIGHT-Saga also, nur ohne das Bonusmaterial.

Da könnte sich nun dezent die Frage aufdrängen, wer eine solch unappetitliche Schachtel überhaupt haben will. Wie wäre es mit dem Waffenhändler Dr. Reiss, der in seinem Programm auch biologische und chemische Keulen führt und die Bazillenbox entsprechend verhökern will? Als zusätzliches Merchandising will der gute Mann dann noch ein Gegenmittel zum Sammlerpreis anbieten. Von diesem schändlichen Plan erfährt allerdings der britische Geheimdienst, der sofort eine Person anheuert, den Burschen zu stoppen: Lara Croft. Weil die von Angelina Jolie gespielt wird und in Digitalform schon mysteriöse Artefakte gesammelt hat wie andere Leute Gartenzwerge, kommt der Geheimdienst auch gar nicht auf den Gedanken, vielleicht noch ein oder zwei zusätzliche Agenten anzuheuern.


Weil es sich bei LARA CROFT: TOMB RAIDER - DIE WIEGE DES LEBENS wie schon beim ersten Croft-Film um die Verfilmung einer populären Reihe von Jump'n'Run-Computerabenteuern handelt, wird hauptsächlich gesprungen und gelaufen, während sich die Story von Level zu Level weiterbewegt. In der Tat funktioniert die Konstruktion des Plots exakt wie ein Computerspiel: An einem exotischen Schauplatz gilt es, Gegenstände zu finden und/oder Gegner zu besiegen, bevor man mit einer haarsträubend absurden Aktion in das nächste Areal kommt - dazwischen gibt es noch eine hübsche Cutscene anzusehen, die ein wenig die Handlung erläutert. Level 1: Der Unterwassertempel! Finden Sie die Leuchtkugel, kämpfen Sie gegen plötzlich auftauchende Chinesen und knobeln Sie aus, wie Sie ohne Atemgerät schnell an die Wasseroberfläche kommen können, wenn der Weg zum Schwimmen zu weit ist.

Gerade die realitätsverbiegenden Schlußaktionen jeder Sequenz geben permanenten Anlaß zum spontanen Beifall. Die Lösung des Unterwasserdilemmas: Croft schneidet sich in den Arm, um mit dem Blut einen Hai anzulocken. Dem klopft sie zur Begrüßung die Faust ins Gesicht, bevor sie sich mit flottem Griff zur Flosse Richtung Oberfläche tragen läßt. Auch später lassen sich die Autoren kaum von der faden Wirklichkeit beeinträchtigen: Da gibt es einen Stabhochsprung zum fliegenden Helikopter, und anderswo gleitet Croft kopfüber in Hochgeschwindigkeit an einem Seil eine Bergwand herunter, damit sie die von oben auftauchenden Schurken besser wegballern kann. Dazwischen wird THE CRADLE OF LIFE (so lautet der Untertitel im Original) wie schon der erste Croft-Film als Mischung aus Indiana Jones und James Bond erzählt: Da werden sagenumwobene Objekte gejagt, deren Hintergründe in Historian's-Digest-Infosprengseln abgehakt werden, und unter Zuhilfenahme verschiedenster Gadgets wird einem gewissenlosen Globalschurken lässig die Stirn geboten.


Die Wiege des Lebens, also der Aufbewahrungsort der Büchse der Pandora, befindet sich übrigens in Afrika. Croft reist dorthin, beziehungsweise: Sie springt beinahe beiläufig mit dem Fallschirm in den fahrenden Jeep ihres Buschmann-Kumpanen, der sie schnurstracks zu seinem Dorf bringt, wo man über die Büchse längst Bescheid weiß. Nach dem Austausch einiger Nettigkeiten und der Warnung, daß ein böser weißer Mann namens Dr. Reiss kommen wird, winkt der Stammeshäuptling müde und will Croft zur Büchse geleiten. Ich sag's ja immer: Wenn man nur öfter mal mit den Naturvölkern dieser Welt kommunizieren würde, würde man sicherlich in kürzester auch den Gral, das Bernsteinzimmer und den Gitarristen von den Manic Street Preachers finden können.

Es kommt natürlich, wie es kommen muß: Dr. Reiss ist auch schon da, weshalb ein erbitterter Zweikampf um die todbringende Schatulle entbrennt. Vorher wird seinem Henchman Til Schweiger von einem brutalen Viech der Kopf abgebissen. Nur wenige Jahre später lockte Schweiger mit exakt demselben Gesichtsausdruck Millionen von Menschen in den Film KEINOHRHASEN.


Wo der erste Film sich noch mit einer Vater-Tochter-Geschichte um eine gewisse emotionale Ebene bemühte (die dank des tatsächlichen Vater-Tochter-Gespanns aus Jolie und Jon Voight auch schön anzusehen war), darf hier ein ehemaliger Liebhaber von Croft für die persönliche Note sorgen. Der Ex-Hapschi schmort zu Beginn des Films noch in einem Gefängnis in Kasachstan, wird aber flugs zur Operation Pandora hinzugezogen und darf sich dann von der testosteronstarken Croft permanent schwach anreden lassen.

Meine Theorie ist ja, daß er damals die Beziehung beendet hat, weil ihm Lara Croft zu fad wurde. Im Gegensatz zu Indiana Jones oder James Bond dürfte die gute Lara nämlich privat zum Steinerweichen uninteressant sein. Indiana Jones hat Witz und Wissen, James Bond hat Stil und weiß die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen, aber Lara Croft macht nichts außer Springen und Laufen - wenn sie nicht gerade dafür trainiert, später besser springen und laufen zu können. Die Frau liest nichts, erzählt nichts Spannendes und weiß mit ihrem immensen Reichtum auch nichts Bedeutendes anzufangen. Da dürfte der unfaßbar enge Neoprenanzug mit durchscheinenden Nippeln, den sie zu Beginn des Films spazierenträgt, die meisten potentiellen Liebhaber auch nur begrenzte Zeit bei Laune halten.


Wir müssen aber nur zwei Stunden mit der Frau verbringen, und die sind so wenig mit Privatem gefüllt wie nur irgendmöglich: THE CRADLE OF LIFE kracht und fetzt und kullert kunterbunt über die Leinwand. Der Film ist ein altmodisches Groschenheft, das mit modernen Mitteln erzählt wird - und als Jump'n'Run-Verfilmung hat er auch ein gewisses Recht, sich mit Spieledramaturgie den Schauwerten zu widmen. Es ist nicht so, daß die Abenteuer einer Frau, die alles kann, keine besonderen Interessen verfolgt oder Probleme hat und jeder tödlichen Gefahr nur mit lässigem Spruch begegnet, immens spannend wären - aber vergnüglich sind sie. Ein bißchen so, wie wenn man jemandem dabei zusieht, wie er ein höchst adrenalinreiches Computergame durchspielt.




Lara Croft: Tomb Raider - Die Wiege des Lebens (USA/Deutschland/Japan/England 2003)
Originaltitel: Lara Croft: Tomb Raider - The Cradle of Life
Regie: Jan De Bont
Buch: Dean Georgaris, Steven E. de Souza (Story), James V. Hart (Story)
Musik: Alan Silvestri
Kamera: David Tattersall
Darsteller: Angelina Jolie, Gerard Butler, Ciarán Hinds, Christopher Barrie, Noah Taylor, Djimon Hounsou, Til Schweiger, Simon Yam

THE HUMAN CENTIPEDE II: Careful what you wish for

$
0
0

In meinem Text zum ersten Teil der Horrorreihe THE HUMAN CENTIPEDE habe ich unter anderem darüber sinniert, wie mich der Tabubruch um des Tabubruchs willen nicht mehr interessiert - früher habe ich noch gezielt nach filmischen Grenzerfahrungen gesucht, heute geben mir die entsprechenden Übungen im Nihilismus eigentlich nur noch innere Leere. Und doch muß ich immer wieder feststellen, daß mich das Verbotene reizt (das merke ich schon daran, wie ich auf reißerische Titel und plakative Konzepte anspringe), und daß ich mich gerne vor allem jenem Terror wieder stelle, der mich früher besonders verstört oder abgestoßen hat - weil es besonders interessant ist, wie sehr sich der eigene Blick auf Film und Welt verändert hat. Rückblickend betrachtet ist es kurios, wie ich immer wieder ins Extrem blicken wollte und dann davon abgeschreckt war, wenn die Filme zu extrem waren. Heute kann ich diesen Zugang besser differenzieren: Nicht das Extrem schreckt mich ab, sondern die Aussicht, hinter diesem Extrem nichts zu finden.

Nun war THE HUMAN CENTIPEDE aber eigentlich - wie so viele berüchtigte Werke, z.B. Joe D'Amatos verschrieener MAN-EATER (DER MENSCHENFRESSER) - primär ein Paradebeispiel in effektvollem Werbegeklapper: Der Film erhielt seinen Ruf als perverser Celluloidabgrund hauptsächlich wegen seiner Grundidee, dem Aneinandernähen von Opfern zu einem "menschlichen Tausendfüßler", wobei der Mund der hinteren Personen am, nunja, Ende des Verdauungstraktes des Vordermanns hing. Tatsächlich war THE HUMAN CENTIPEDE nicht wahnsinnig explizit: Er war kaum blutig, und auch wenn das Leid der Opfer lang ausgekostet wurde, spielte sich alles Widerwärtige im Kopf ab und nicht auf der Leinwand. Wenn die Story selber nicht von zahlreichen Gruselklischées und hirnrissig handelnden Figuren durchzogen gewesen wäre, hätte man den Film tatsächlich als perfide schwarze Groteske feiern können.

Martin (Laurence R. Harvey) hat Freude an seinem
menschlichen Tausendfüßer.

Der Erfolg des Erstlings verlangte nun freilich, daß die Schauermär um den menschlichen Tausendfüßler weitergeht - und Autor und Regisseur Tom Six nutzt die Gelegenheit, um sein Publikum weit in den Abgrund hineinzuziehen, den der Vorgängerfilm eigentlich nur andeutete. THE HUMAN CENTIPEDE II (der den Untertitel "Full sequence" trägt, während der erste Film noch den Zusatz "First sequence" hatte) watet derart ausgiebig in sadistischen Grausamkeiten, daß der Film wie eine bizarre Adaption des Prinzips "Careful what you wish for" wirkt: Wer nach dem ersten Teil mehr wollte, wird hier womöglich feststellen, daß mehr zuviel ist.

Six geht mit der Fortsetzung erzählerisch einen recht ungewöhnlichen Weg: In der Welt von THE HUMAN CENTIPEDE II ist der erste Teil tatsächlich nur ein Film, der hier einen kranken und geistig behinderten Fan namens Martin dazu anregt, selber einen solchen menschlichen Tausendfüßler mit 12 Personen zu bauen. Martin arbeitet in einem Parkhaus, wo er sich seine Opfer zusammensucht; als Kopf seiner Kette entführt er eine der Schauspielerinnen aus dem Originalfilm, Ashlynn Yennie, die sich hier gewissermaßen selber spielt.

Im ersten Film war sie noch weiter hinten in der Kette:
Ashlynn Yennie bewegt sich vorwärts im Filmbusiness.

Weil wir abgesehen vom immer stumm bleibenden Martin keine Identifikationsfiguren in der Geschichte haben - selbst die Schauspielerin wird hier als beinahe so anonymes Opfer wie die anderen behandelt - wird THE HUMAN CENTIPEDE II quasi wie ein Psychogramm erzählt, das uns an einen Menschen bindet, mit dem wir eigentlich gar keine Zeit verbringen wollen. Es ist bezeichnend, wie krank und grotesk Martins Welt selbst ohne das Tausendfüßler-Konzept gezeichnet ist: Er wurde offenbar als Kind vom Vater sexuell mißhandelt; die Mutter wirft ihm vor, daß ihr Mann seinerwegen im Gefängnis sitzt. Ein Psychiater mit gigantischem Rauschebart interpretiert Martins Interesse für Tausendfüßler flugs als Phallus-Symbol und tätschelt dem zurückgebliebenen Mann bei der Erwähnung der sexuellen Übergriffe des Vaters liebevoll das Bein. Normale menschliche Interaktion findet hier nicht statt: Die Mutter versucht eines Nachts, ihren Sohn mit dem Messer umzubringen; der Nachbar ist ein brutaler Skinhead, der Martin gegenüber handgreiflich wird, und ein fetter Mann im Parkhaus, der sich mit dem Psychiater eine Prostituierte teilt, meint schmierig grinsend, daß er einen Ort in Thailand kennt, wo man Sex mit geistig behinderten Kindern haben kann.

Wenn Martin sich dann daran macht, seine zwölf Opfer - darunter auch eine schwangere Frau - aneinanderzureihen, mutet das zunächst wie ein schwarzhumoriger Horrorwitz an: Er bewaffnet sich mit Zange, Hammer, Säge, Küchenmessern, Tacker und anderen Utensilien aus dem häuslichen Werkzeugkoffer und macht sich vergnügt an die Arbeit. Tom Six ist aber nicht zum Scherzen zumute - oder sein Scherz geht, wie oben angedeutet, auf Kosten des Zusehers, der das unbedingt sehen will: Wo der erste Film die tatsächliche Operation noch visuell beinahe ganz aussparte, wird Teil 2 zur Splattersause für Menschen mit starken Mägen. Da werden Knie aufgeschnitten, um die Kniescheibenbänder zu zertrennen, Zähne werden mit dem Hammer herausgeschlagen, eine Zunge wird mit der Zange herausoperiert. Daß Martin die hinterste Frau seiner Kette dann vergewaltigt, nachdem er sich Stacheldraht um sein bestes Stück gerollt hat, wird dankenswerterweise ohne Nahaufnahmen gezeigt.

"Keine Bange, die Selbstbeteiligung liegt bei maximal 10 Euro am Tag."

Man kann sich nun überlegen, ob Tom Six mit THE HUMAN CENTIPEDE II eine Art Meta-Kommentar zum Extremhorror-Genre abgeben will (beziehungsweise zu dem, was der Zuseher dort sehen will), oder ob er einfach nur wüst provoziert, als gälte es, einen Pokal für den geschmacklosesten Film aller Zeiten zu gewinnen. Geht es um einen etwaigen Zusammenhang zwischen fiktivem Horror und echten Grausamkeiten? Der triste Schwarz-Weiß-Look suggeriert eigentlich mehr Künstlichkeit als der Farblook des Vorgängers, aber vielleicht wurde die Optik auch nur gewählt, um die Brutalität leichter an etwaigen Zensoren vorbeischmuggeln zu können (eine Technik, die ja zum Beispiel Quentin Tarantino auch in KILL BILL aufgreift). Es beschleicht einen manchmal das Gefühl, Six möchte wie Michael Haneke in FUNNY GAMES den Zusammenhang zwischen Gewalt und Unterhaltung hinterfragen - vor allem im Hinblick auf unsere Erwartungen an bestimmte Filme - aber abgesehen von der Grundprämisse, daß der erste HUMAN CENTIPEDE hier eine Fiktion ist, die einen Menschen zum Nachahmen einlädt, fehlt dem Prozedere jegliche Reflektionsebene. Das Ziel dürfte tatsächlich sein, den Zuseher möglichst weit über seine Grenzen zu stoßen.

Man muß dem Film zugestehen, daß er dieses Ziel sehr effektiv erreicht - THE HUMAN CENTIPEDE II ist technisch gut gemacht, der Ambient-Score verbreitet ein bedrückendes Gefühl der Trostlosigkeit, und der mutige Laurence R. Harvey ist sagenhaft abstoßend in seiner Rolle als Martin. Wobei wie schon beim Vorgänger immer ein wenig die Dummheit dafür Sorge tragen muß, daß das Horrorkonzept überhaupt aufgeht - zum Beispiel, wenn die Schauspielerin Yennie mit der Aussicht auf ein Vorsprechen bei Tarantino nach London gelockt wird, oder wenn mehrere Gefangene, die an Händen und Füßen mit Klebeband gefesselt sind, es nicht einmal versuchen, zur nächsten Person herüberzurobben, um sich gegenseitig von den Fesseln zu befreien.

"Ich suche HUMAN-CENTIPEDE-Fans für nette Stunden zu zwölft ..."

Freilich suggeriert diese Anmerkung, daß die Qualität des Films (oder der Mangel daran) irgendetwas damit zu tun hat, wie plausibel das Geschehen aufgezogen ist - dabei ist dieser Aspekt eigentlich völlig irrelevant für das, was der Film ist. THE HUMAN CENTIPEDE II ist eine heftige Provokation, bei der jegliche Kritik an der Machart eigentlich durch sein Ziel der Grenzüberschreitung von vornherein abgeschmettert wird. Der Film ist zu heftig? Genau das ist ja der Punkt! Der Film ist unrealistisch? Vielleicht ist genau das ja der Punkt! Der Film hat keine Handlung? Ganz genau!

Letztlich ist es wohl exakt diese Eigenschaft, die Six' Provokation letzten Endes irgendwie berechenbar und damit banal werden läßt: Es steckt keine debattierbare Position dahinter. Man ahnt irgendwie, daß sich das mit dem von Six angekündigten dritten Teil auch nicht ändern wird: Der verspricht nämlich hauptsächlich, noch ärger zu werden und eine Kette von 500 Menschen zu präsentieren. Sprich: Es gibt mehr für alle, denen das "mehr" des zweiten Films noch nicht genug war - oder die es diesmal noch nicht gelernt haben: Careful what you wish for.








The Human Centipede II (full sequence) (Niederlande/England/USA 2011)
Regie: Tom Six
Buch: Tom Six
Kamera: David Meadows
Musik: James Edward Barker
Darsteller: Laurence R. Harvey, Ashlynn Yennie, Vivien Bridson, Bill Hutchens

Die komische Welt von Harold Ramis - Ein Nachruf

$
0
0
Harold Ramis im Jahr 2009 (Quelle: Wikipedia).


Einer der lustigsten Menschen der Welt ist heute gestorben. Zugegeben: Ich kannte Harold Ramis gar nicht persönlich und habe keine Ahnung, ob er privat witzig war oder nicht. Ich weiß aber, daß er als Schauspieler, Autor und Regisseur bei einigen der witzigsten Filme aller Zeiten involviert war.

Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger steckte Ramis hinter drei absoluten Kultkomödien, die lustvoll die Anarchie pflegten und mit brillanter Absurdität nur so um sich warfen. Er schrieb die John-Belushi-Collegekomödie ANIMAL HOUSE (bei uns: ICH GLAUB, MICH TRITT EIN PFERD), deren wahnwitziges Vergnügen eine ganze Legion an Nachahmern inspirierte. Als Regisseur drehte er die Golfercomedy CADDYSHACK, die sich kaum die Mühe macht, ihre sketchhaften Miniaturen mit Chevy Chase, Bill Murray und Rodney Dangerfield in ein Narrativ zu packen: Hier werden einfach nur schräge Vögel auf eine Nobelgesellschaft losgelassen, und Ramis schaut mit liebevoller Hingabe zu. Auch die Chevy-Chase-Komödie VACATION (bei uns: DIE SCHRILLEN VIER AUF ACHSE) geht auf Ramis' Konto - dieser unvergeßliche Trip der Familie Griswold durch die Vereinigten Staaten, bei der einfach alles schiefgeht, was nur schiefgehen kann, bis Chase dann mit irrem Gelächter seine an einem Herzinfarkt gestorbene Schwiegertante oben auf das Autodach bindet, um den Familienurlaub weiter genießen zu können.

Harold Ramis in GHOSTBUSTERS II (1989).

Als Schauspieler ist Ramis hauptsächlich aus GHOSTBUSTERS bekannt, den er zusammen mit Dan Aykroyd auch schrieb. Sein Egon Spengler ist der verschrobene Wissenschaftler der Runde, der mit trockenem Humor das Geschehen kommentiert ("Don't cross the streams. It would be bad"). Später geriet Ramis' Schauspieltätigkeit ein wenig in den Hintergrund, weil er sich auf das Inszenieren konzentrierte, aber dennoch war er immer wieder zumindest in Gastauftritten zu sehen - zum Beispiel als unfreiwillig zugekiffter Dekan in Jake Kasdans ORANGE COUNTY oder als Vater in Judd Apatows BEIM ERSTEN MAL.

Harold Ramis (links) mit Schuyler Fisk und
Colin Hanks in ORANGE COUNTY (2002).


Ramis' wundervollste Hinterlassenschaft - als würden die genannten Filme noch nicht reichen! - ist aber die Bill-Murray-Komödie UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER. Hier mischt sich in Ramis' verschrobenen Humor auch eine philosophische Komponente, weil die Geschichte von einem Mann, der immer wieder denselben Tag erleben muß, einerseits als Läuterungsstory funktioniert, andererseits auch als Lebensallegorie gelesen werden kann. Wie sehr sich der Film ins allgemeine Bewußtsein gegraben hat, läßt sich schnell feststellen, wenn man den Filmtitel in Zusammenhang mit einer Wiederholung von Vorgängen nennt - die meisten Menschen wissen, wovon man redet.

Auch danach schrieb und inszenierte Ramis Filme, die sich größter Beliebtheit erfreuen - auch wenn ich REINE NERVENSACHE mit Billy Crystal und Robert De Niro "nur" amüsant finde, darf man doch den Hut davor ziehen, wie Ramis hier erstmalig De Niro gegen den Strich besetzt hat (der dann zur Strafe immer wieder Komödien drehen mußte, bis der Gag verpufft war). Auch TEUFLISCH mit Brandan Fraser und Elizabeth Hurley hat seine witzigen Momente. Ein Ramis-Film, den ich noch sehr schätze, ist die Rodney-Dangerfield-Komödie MACH'S NOCHMAL, DAD, zu der Ramis das Drehbuch beisteuerte - und auch hier betrachtet er seinen anarchischen Antihelden, der sich als Millionär einen Studienplatz erkauft, damit er mit seinem Sohn zusammen studieren kann, so liebevoll und mit so ansteckendem Humor, daß man den Film immer wieder sehen kann.

Nachdem Ramis gleich hinter mehreren meiner Lieblingsfilme steckt, die ich schon als Jugendlicher zigfach gesehen habe, kann ich aus heutiger Sicht kaum mehr trennen, ob er einfach meinen Humor getroffen hat, oder ob mein Humor durch seine Arbeit mitgeprägt wurde. Vielleicht ist es eine Mischung aus beidem. Es steckt etwas gutmütig Rebellisches in Ramis' Welt: Er lacht mit denen, die die rigiden Strukturen der Welt niederreißen - versehentlich oder absichtlich. Und wie bei Mel Brooks - dessen Stil mit Ramis' Humor sonst gar nicht viel zu tun hat - zieht sich die Ansicht durch die Ramis-Filme, daß man alles aus einem komischen Winkel betrachten kann. Gerade letzteres spricht mich stark an, weil ich selber die Welt immer gerne heiter sehe.

Ramis ist heute im Alter von nur 69 Jahren aufgrund der Autoimmunkrankheit Vaskulitis gestorben. Die Nachricht macht mich traurig - aber dann denke ich an das ganze Vergnügen, das er uns hinterlassen hat, und muß schmunzeln. Wo immer Harold Ramis jetzt ist: Ich bin mir sicher, er bringt die Leute dort herzhaft zum Lachen.

SPEED: Zwei Stunden Dauerthrill

$
0
0

SPEED ist die Quintessenz des Actionfilms: Der Film trägt seinen gesamten Inhalt und Subtext schon im Titel. In dem Regiedebüt des früheren Kameramanns Jan De Bont geht es um nichts weiter als die Elemente, aus denen sich das Genre zusammensetzt - Geschwindigkeit, Thrill, Adrenalin, Zerstörung, Gefahr. Im Actionfilm ist das physische Spektakel der Leitfaden, das Draufgängertum Handlungsmotor und die Extremsituation notwendige Phase zur Wiederherstellung der Ordnung. SPEED destilliert diese Eckpfeiler auf das Wesentliche herunter: Der Film funktioniert wie eine perfekt geölte Maschine, die unter Hochdruck startet und dann noch mehr Fahrt aufnimmt, ohne sich Ruhepausen zu gönnen. Wie THE FRENCH CONNECTION in anderem Kontext ist SPEED eine spielfilmlange Verfolgungsjagd.

Die Kunst von SPEED besteht schon alleine darin, das Grundkonzept zu immer weiteren Sensationen zu treiben, ohne sich dabei je von der nüchternen Plausibilität ausbremsen zu lassen: Ein verrückter Erpresser präpariert einen Verkehrsbus so, daß eine Bombe aktiviert wird, sobald der Bus schneller als 50 Meilen pro Stunde fährt - und dann hochgeht, sobald er unter diese Geschwindigkeit fällt. Der Cop Jack Traven, der dem Bombenleger schon einmal in die Quere gekommen ist, hat also alle Hände voll zu tun, den Bus durch den Verkehr von Los Angeles in Hochgeschwindigkeit zu halten, während er versucht, entweder die Bombe zu entschärfen oder die Passagiere zu evakuieren. Und da fangen die Probleme erst an: Der Erpresser überwacht das Geschehen per Video, ein Stau blockiert den Freeway, und irgendwo fehlt ein Stück Straße in einer Brücke ...


Wenn ich einen Film wie SPEED schreiben müßte, würde der Bus wohl schon nach 15 Minuten explodieren - oder das Problem würde sich woanders hinverlagern. De Bont und sein Autor Graham Yost schaffen es dagegen, die Angelegenheit bis auf den letzten Tropfen auszukosten: Es passiert ständig noch etwas, größere Probleme tun sich auf, wahnwitzige Lösungen werden ausprobiert, und getreu der Prämisse bleibt die Story stets in Bewegung. Das fängt schon mit der Vorgeschichte an, in der der Wahnsinnige in einem Hochhaus einen Fahrstuhl mit einer Bombe ausstattet und droht, Kabel und Bremsen wegzusprengen und damit die Passagiere in den Tod fallen zu lassen, wenn ihm seine Geldforderungen nicht erfüllt werden. Der Thrill setzt sich fast nahtlos mit der Busgeschichte fort - und nachdem die eine Stunde lang erzählt wurde, wird flugs noch das Transportmittel gewechselt, um den Geschwindigkeitsrausch fortsetzen zu können.

Das Effektive an SPEED liegt aber nicht nur an der ständigen Fortbewegung des Handlungsgerüsts, sondern auch darin, wie De Bont seinen Film mit zahlreichen Sequenzen vollpackt, in denen die Katastrophe schon absehbar ist und immer haarscharf abgewendet werden kann. Schon zu Beginn werden Leute aus dem Fahrstuhl evakuiert, während der ruckweise nach unten fällt - weshalb man bei jeder Person das Gefühl hat, es könnte diesmal zu eng werden. Auch die anderen Momente werden zur Genüge gemolken: Ob Jack auf dem Freeway aus einem Auto in den fahrenden Bus herüberspringen muß oder sich später auf einem Rollwagen unter den Bus zur Bombe begibt, wo er fast unter die Räder kommt - glatt geht hier gar nichts, und der Nervenkitzel wird immer weiter intensiviert.


Man merkt, daß De Bont als Kameramann oft in der Action- und Thrillerschule war: Unter anderem fing er die Bilder für Richard Donners LETHAL WEAPON 3, Paul Verhoevens BASIC INSTINCT, John McTiernans STIRB LANGSAM und Ridley Scotts BLACK RAIN ein. In SPEED packt er zusammen mit Kameramann Andrzej Bartkowiak (der selber später zum Actionregisseur aufstieg) diese Fertigkeit in eine Form, die das Adrenalin zur Hauptattraktion des Films macht: Die Kamera steht nie still, das Tempo wird nie gedrosselt. Die Figuren definieren sich nur durch ihre Teilnahme an den Extremsituationen - Zeit für Introspektion gibt es hier ebensowenig wie Momente der Charakterentwicklung. Daß der Film damit nicht wie eine seelenlose Technikübung wirkt, liegt daran, daß die Inszenierung einem jede Sekunde mit Dringlichkeit einbleut, daß die Gefahr auf der Leinwand gerade viel wichtiger ist als alles, was drumherum geschieht. SPEED existiert nur in der Jetztzeit.

Als ich SPEED damals zum ersten Mal gesehen habe, empfand ich den Film als völlig hohl und dumm. Es gibt hier eben nichts herauszulesen, was nicht an der Oberfläche zu sehen wäre: Die Oberfläche ist in SPEED die einzige Fläche. Erst Jahre später, nach nochmaligem Ansehen, habe ich gesehen, daß genau das der Grund ist, warum der Film so funktioniert, wie er es tut - jeder Zusatz wäre hier nur ein Gewicht, das die Geschwindigkeit reduzieren würde. Und so ganz dumm ist der Film in seiner minimalistischen Action-Destillation dann auch wieder nicht: Er weiß nämlich ganz genau, daß wir nicht für die Schauwerte ins Kino gehen, sondern für den Thrill, der durch sie erzeugt wird.




Speed (USA 1994)
Regie: Jan De Bont
Drehbuch: Graham Yost
Kamera: Andrzej Bartkowiak
Musik: Mark Mancina
Darsteller: Keanu Reeves, Dennis Hopper, Sandra Bullock, Jeff Daniels, Joe Morton, Alan Ruck, Glenn Plummer

STIRB LANGSAM: Der verwundbare Einzelkämpfer

$
0
0

Wenige Actionfilme haben das moderne Eventkino so stark geprägt wie John McTiernans STIRB LANGSAM. Auch wenn der Film mittlerweile über 25 Jahre auf dem Buckel hat, sind seine Auswirkungen immer noch spürbar: Das Konzept vom Einzelkämpfer, der notgedrungen auf engem Raum eine schillernde Truppe von Terroristen ausschalten muß, zog unzählige Variationen nach sich, die sich allesamt mit der Phrase "STIRB LANGSAM in/auf Setting" beschreiben ließen - von "STIRB LANGSAM auf einem Schiff" (ALARMSTUFE: ROT) über "STIRB LANGSAM im Flugzeug" (AIR FORCE ONE) hin zu "STIRB LANGSAM in den Bergen" (CLIFFHANGER). Selbst die Fortsetzung nahm sich da nicht aus - die war "STIRB LANGSAM im Flughafen". Und wie Roland Emmerichs WHITE HOUSE DOWN letztes Jahr gezeigt hat, lebt das Subgenre immer noch weiter: "STIRB LANGSAM im Weißen Haus".

McTiernans Original ist sozusagen "STIRB LANGSAM im Wolkenkratzer": Der New Yorker Cop John McClane kommt nach Los Angeles, um seine Frau zu besuchen, die dort einen lukrativen Job bei einer internationalen Firma angenommen hat. Bei der Weihnachtsfeier stürmen Terroristen das Firmengebäude und nehmen die Mitarbeiter als Geiseln - bis auf McClane, der ihnen durch einen Zufall entgeht und jetzt alleine den bösen Buben Einhalt gebieten muß. Unterstützung hat er nur per Funkkontakt zu dem Streifenpolizisten Al Powell, der aber ebensowenig wie das anrückende FBI in das abgeriegelte Hochhaus kommen kann.



Das resultierende Thrillpaket dieser Minimalprämisse wirkt trotz aller Blockbuster-Choreographie vor allem deshalb realistisch, weil McTiernan seinen Held als fehlbaren und verletzlichen Menschen zeichnet, der sich gar nicht darum reißt, eine Unglaublichkeit nach der anderen zu leisten. Schon anfangs werden die Schwierigkeiten in McClanes Ehe thematisiert, und nachdem er sich kurz vor der Aussöhnung erneut mit seiner Frau gestritten hat, ärgert er sich in einem stillen Moment hauptsächlich über sein eigenes aufbrausendes Wesen. Vor allem aber ist McClane (der in seiner ersten Szene als Mensch mit Flugangst eingeführt wird) körperlich verwundbar: Im Laufe des Films trägt er immer mehr Verletzungen davon, bis er zum Schluß humpelnd und blutüberströmt kaum mehr stehen kann. Daß unser Protagonist beinahe den ganzen Film über barfuß bleiben muß und in einer Sequenz mit den nackten Füßen über Glassplitter läuft, funktioniert da ganz nebenher als metaphorische Umschreibung seiner Menschlichkeit.

Auch der Plot wartet unter McTiernans erzählerischem Geschick immer wieder mit cleveren Entwicklungen auf: So läßt er das Katz-und-Maus-Spiel zwischen McClane und dem Terroristen Hans Gruber lange Zeit rein über den Funkverkehr wirken, bis sich die Kontrahenten dann nach 90 Minuten Laufzeit zum ersten Mal tatsächlich begegnen - in einer Sequenz, in der sich Gruber als entflohene Geisel ausgibt. Überhaupt hat der Regisseur ein gewisses Vergnügen an dem doppelbödigen Plan seiner gebildet auftretenden Verbrecher: Da stellt Gruber absurde Forderungen über die Freilassung von Terroristen rund um Welt, damit das FBI die Standardprozedur im Umgang mit Terroristen anwendet und dem Gebäude den Strom abdreht - wodurch die Gangster in den Tresorraum gelangen können, auf den sie es eigentlich abgesehen haben.


McTiernans Inszenierung kostet dabei immer wieder gekonnt Suspense-Szene aus, in denen stets schlimme Ereignisse und verpaßte Gelegenheiten in Aussicht gestellt werden - sei es, daß McClane aus dem Fenster heraus unten auf der Straße fahrende Polizeiwagen sieht und hofft, daß jemand auf die Situation im Hochhaus aufmerksam wird (die Streifenwagen biegen dann aber in eine andere Richtung ab), oder daß Streifenpolizist Powell bei einer Kontrolle der Lobby von einem Schützen bedroht wird, der für uns groß im Vordergrund sichtbar, für ihn aber hinter einer Ecke verborgen bleibt. Solche Momente packen dabei mitunter ganz menschliche Grundängste an: Wenn Powell von der Ferne aus das Hochhaus betrachtet, auf dessen Dach gerade wilde Feuergefechte stattfinden (die er nur als leichte Blitze in der Nacht sieht), dann spielt der Blick mit dem Gefühl, wie isoliert und auf sich gestellt man trotz räumlicher Nähe zu anderen sein kann.

Der Regisseur erzählt die Grundprämisse zwar mit der nötigen Ernsthaftigkeit - vor allem, was McClanes Schwierigkeiten angeht - kann aber gleichzeitig an den Rändern etwas Ironie einfließen lassen. Nicht nur im Abspann ertönt Beethovens "Ode an die Freude", auch die (großteils deutsch sprechenden) Terroristen begleitet die Melodie quasi als Leitmotiv - eine augenzwinkernde Bosheit angesichts der Tatsache, daß es in Schillers zugrundeliegendem Text um Menschen geht, die gleichberechtigt durch Freude und Freundschaft verknüpft sind. An manchen Stellen gesteht sich der Film auch gewissermaßen selber seine Existenz als US-Actionphantasie zu - vor allem, wenn Terrorist Gruber über das Funkgerät den Draufgänger McClane fragt: "Who are you? Just another American who saw too many movies as a child? Another orphan of a bankrupt culture who thinks he's John Wayne? Rambo? Marshal Dillon?"


Diese unterschwellige Ironie mündet letztlich auch in ein spöttisches Porträt Amerikas in den Achtziger Jahren: Da wird mit dem (von einer japanischen Firma errichteten!) Wolkenkratzer ein Sinnbild für den Großkapitalismus zerstört, während sich die (ebenso internationalen) Terroristen selber als rein finanziell motivierte Gauner entpuppen. Ein koksender Yuppie unter den Geiseln überschätzt sich maßlos und spielt sich als cooler Vermittler auf, während er unseren Helden verrät. In den Medien, die über die Gangster berichten, erzählt ein ahnungsloser Experte etwas vom "Helsinki-Syndrom", während ein eitler Reporter den Vorfall nur als Garant für hohe Einschaltquoten sieht. Und zum Schluß kann sich Gruber nur noch an der goldenen Rolex festhalten, die McClanes Ehefrau als Prämie von der Firma erhalten hat - und die nach dem Lösen des Armbandes mitsamt Gruber in die Tiefe stürzt.

All diese Elemente und Ebenen bilden das tragfähige Grundgerüst, auf dem McTiernan seine actionreiche Hochspannung aufbauen kann. Im eigentlich sehr begrenzten und nicht sehr vielfältigen Raum des Wolkenkratzers variiert der Regisseur immer wieder die Schauplätze, wechselt von der prunkvollen Chefetage in nüchterne Büros, vom beklemmenden Fahrstuhlschacht in noch nicht fertig gebaute Etagen, von der üppigen Lobby in die für die Computerserver vorgesehene Technik-Etage. Jan De Bonts Kamera ist oft in Bewegung, verbindet einzelne Bilder mit Reißschwenks, gibt den stimmungsvoll ausgeleuchteten Bildern mit Blendenflecken einen unmittelbaren und realistischen Eindruck.


Wie schwer es ist, diese sorgfältig inszenierte Mixtur aus Event-Action, permanentem Thrill und menschlichen Figuren auszutüfteln, haben nicht nur diverse der Nachahmer gezeigt, sondern letztlich auch insbesondere die späteren Fortsetzungen der STIRB-LANGSAM-Reihe selber - die sich nicht nur, vielleicht in Reaktion auf die Konkurrenz, von den speziellen Schauplätzen loslösten, sondern auch die Verwundbarkeit von John McClane nach und nach über Bord warfen. Der unkaputtbare und stets quengelige McClane, der in Teil 4 mit einem Auto in einen Helikopter rast und in Teil 5 mit einem Truck aus einem Hubschrauber herausspringt, hat jedenfalls nichts mehr zu tun mit der Figur des Originalfilms, die den sichtbaren Schmerz mit letzten Kraftreserven wegstecken muß, weil es eben nicht anders geht. Mit letzterem Konzept könnte sich vielleicht der geplante sechste Teil aus der Menge der ähnlichen Actionfilme hervorheben: "STIRB LANGSAM mit John McClane".





Stirb langsam (USA 1988)
Originaltitel: Die Hard
Regie: John McTiernan
Buch: Jeb Stuart, Steven E. de Souza
Kamera: Jan De Bont
Musik: Michael Kamen
Darsteller: Bruce Willis, Alan Rickman, Bonnie Bedelia, Reginald Veljohnson, Paul Gleason, William Atherton, Hart Bochner, Alexander Godunov, Robert Davi, De'voreux White, Al Leong

Close-Up: Der dramatische Raum in STIRB LANGSAM

$
0
0

In meinem Text zu John McTiernans Actionklassiker STIRB LANGSAM spreche ich unter anderem darüber, wie die Inszenierung mit dem eingeschränkten Raum umgeht. Ein räumliches Konzept möchte ich mir anhand einer Szene genauer ansehen: Da viele Gespräche zwischen Figuren über Funk ablaufen, muß McTiernan die Beziehungen zwischen den Charakteren - vor allem Cop McClane gegen Terrorist Hans Gruber, außerdem McClane und Polizist Al Powell - über die räumliche Distanz aufbauen. Auf dem Audiokommentar führt McTiernan aus, wie er und Kameramann Jan De Bont diese Konversationen visuell arrangiert haben:

The attempt was to give the audience some sense of geography between the different people. [...] At any particular moment, you had a physical relationship to where various people were. [...] In a dramatic sense, as far as the audience is concerned, these people are in the same room - so shoot it that way.

Schauen wir uns mal die Szene an, in der McClane (Bruce Willis) zuerst mit Gruber (Alan Rickman) redet und dann mit dem Verräter Harry Ellis (Hart Bochner) - die Szene beginnt auf der deutschen DVD bei 01:18:06. (Ein Bild mit Kommentar entspricht einer Einstellung; wenn mehrere Bilder untereinander stehen, sind sie aus derselben Einstellung.)



Gruber weiß mittlerweile dank Ellis, wer McClane ist. McClane, der sich in einem anderen Stockwerk befindet, steht (im Gegensatz zum vorigen Gespräch mit Powell, wo mehr Hintergrund zu sehen war) fast im völlig Finsteren, als er antwortet: "Sister Teresa called me Mr. McClane in the third grade. My friends call me John, and you're neither, shit-head." Das ihn umgebende Schwarz läßt ihn verlorener wirken, nachdem seine Anonymität aufgehoben wurde (McClane will natürlich verhindern, daß die Verbindung zu seiner Frau klar wird, die sich unter Grubers Geiseln befindet).


Weil McClane in der rechten Bildhäfte positioniert ist, spricht Gruber von der linken aus zu ihm.  Man beachte, wie Grubers Raum durch die Grün- und Brauntöne wärmer wirkt, er selber aber durch das seitlich durch die Jalousie fallende Licht härter gezeichnet ist als McClane. "I have someone who wants to talk to you; a very special friend ..." 


"... who was with you at the party tonight." Eine kurze Reaktion von McClane.




Gruber reicht Ellis das Funkgerät. Die Kamera schwenkt nach rechts zu Ellis, der Gruber gegenüber am Schreibtisch sitzt. Während Gruber alleine im Bild platziert war, wird Ellis durch die Anwesenheit des im Hintergrund sitzenden Terroristen Karl (Alexander Godunov) subtil als Figur gezeigt, die nicht alleine handeln kann. "Hey, John boy."


McClane ist noch in der selben Einstellung wie vorhin, während er überlegt, wer der Mann am anderen Ende sein könnte. "Ellis?" - "Yeah. Now listen, John, they're giving me a few minutes to try to talk some sense into you ..."


Ellis redet weiter: "I know you think you're doing your job, John, and I can appreciate that ..."



McClane bewegt sich jetzt nach links, die Kamera geht mit ihm. Er geht ein paar Schritte nach hinten, mit dem Rücken zu uns, und droht - nachdem er an einer grellen Lampe vorbeimarschiert ist - ganz im Finsteren zu verschwinden. Die Bewegung korrespondiert damit, wie sich die Gesprächsdynamik jetzt verändert hat. Wir hören weiter, was Ellis sagt: "... but you're just dragging this thing out. Now look, no one gets outta here until these guys ..."


"... can talk to the L.A. police, and that just ain't gonna happen until you stop messin' up the works, capice?"


McClane ist wieder zu uns gewandt und tritt aus dem Schatten wieder heraus, während die Kamera leicht auf ihn zugeht. Er steht nun auf der gegenüberliegenden Seite des Frames, womit er seinem Gesprächspartner wieder zugewandt erscheint. "Ellis, what have you told them?"


" I told 'em we were old friends and you were my guest ..."


"... at the party." - "Ellis, you shouldn't be doing this." Man beachte, wie in dieser Einstellung links eine Wand angeschnitten ist, um McClane nicht ganz im Nichts zu platzieren (in der vorigen Einstellung war es ein kleines Licht neben ihm).


"Tell me about it." Jetzt bewegt sich etwas in Ellis' Bildausschnitt: Ein anonymer Terrorist kommt mit einer Coladose und einem Glas ins Bild und stellt das Glas vor Ellis hin. Ein nettes Detail, das die Lage bei Ellis entspannter wirken läßt (gegenüber dem angespannten McClane) und gleichzeitig mit der zivilisierten Gastgeber-Façade spielt, die Gruber gerne zeigt ...


... weshalb der Film auch kurz zu Gruber schneidet, der mit süffisantem Lächeln abwartet, was geschieht. Wieder wird er durch schräge Schatten zwielichtiger gezeichnet. Gruber ist jetzt ungefähr in derselben Bildposition wie McClane, weil Ellis beim Gespräch mit McClane ja stellvertretend Gruber ansieht.


Der Mann im Hintergrund gießt Ellis die Cola ein, während der weiterredet: "Alright, John, listen ..."





"They want you to tell them where the detonators are. They know people are listening. They want the detonators or they're gonna kill me." Während Ellis redet, dreht sich McClane wieder um, geht ins Schwarze, bis er an einem Fenster ankommt und sich wieder seitlich hinstellt. Die Kamera schwenkt leicht mit, um McClanes neue Position neu einzufangen; mit dem Schwenk und der Fokusverlagerung werden die Lichter anderer Hochhäuser sichtbar. Man beachte, daß McClane hier in einem viel kälteren, härteren Licht steht.


Ellis deutet siegessicher. "John, didn't you hear me?"


"Yeah, I hear you."



Erst jetzt ändert sich der Bildausschnitt auf Ellis' Seite: Während er Druck auf McClane macht (und sich gleichzeitig seiner eigenen Gefahr nicht bewußt ist), fährt die Kamera langsam an ihn heran. "Hey, John, I think you can get with the program a little, huh? The police are here now, it's their problem. Now tell these guys where the detonators are so no one else gets hurt, you know I'm putting my life on the line for you, pal." - "Ellis, listen to me very carefully." - "John ..."


"Shut up, Ellis, just shut your mouth! Put Hans back on the line."




Ellis hält das Funkgerät hoch, und McClane sagt: "Hans, this shit-head does not know what kind of man you are, but I do. Listen to me!" Während sich die Situation zuspitzt, fährt die Kamera um Ellis herum, bis wir hinter ihm sind und auf Gruber blicken, der eine Pistole in der Hand hält (die Tatsache, daß wir zuerst die Pistole sehen und dann erst Grubers Gesicht, lenkt unsere Aufmerksamkeit natürlich auf das, was passieren wird). Gruber erklärt McClane: "Good. Then, you'll give us what we want and save your friend's life. You're not part of this equation this time, you realize that." Zum Schluß steigt die Kamera leicht nach oben und verstärkt damit das Machtgefälle zwischen Gruber und Ellis. Letzterer redet weiter: "Hey, what am I, a method actor? Hans ..."



"... babe, put away the gun! This is radio, not television", ist Ellis weiter zu hören. Während McClane probiert, den Mann zu retten, kommt auch in seinen Bildausschnitt Bewegung: Die Kamera fährt nah an ihn heran. Sein Gesicht ist jetzt fast ganz im Schatten. "Hans, this asshole is not my friend! I just met him tonight, I don't know him! Jesus Christ, Ellis, these people are gonna kill you! Tell them you don't know me!" - "John, how can you say that after all these years, huh?"


Auch an Ellis ist die Kamera jetzt genau so nah dran, passend einerseits zu McClanes Framing, andererseits zur Nervosität, die ihn jetzt erfaßt. "John? ... John?"


In derselben Einstellung wie vorher sehen wir, wie Gruber - nach wie vor lächelnd - die Pistole wieder anhebt.


Ellis nimmt gespielt lässig einen Schluck Cola, kann aber seine Angst nicht mehr verbergen.


Über das Funkgerät hört McClane den Schuß, der Ellis tötet - was wir nicht sehen. Die letzten drei Bilder waren schneller aneinandergeschnitten als die Konversation zuvor, was zur zugespitzten Situation paßt. Die Kamera ruckt ein Stück nach links, so wie McClane auch leicht vor dem Geräusch des Schusses zurückzuckt.



Eine Geisel, die den Schuß gehört hat, schreit. Die Kamera geht mit einem Reißschwenk nach oben rechts auf eine andere Einstellung: McClanes Frau, die sich bemüht, sich nicht von der um sich greifenden Panik anstecken zu lassen.




Die nächste Einstellung verbindet Gruber mit den Geiseln: Gruber geht zur Tür, öffnet sie und hält das Funkgerät in den Raum, damit McClane die Schreie der panischen Geiseln hört. Die Kamera steht quasi mit ihm auf und schwenkt dann schnell nach links, um durch die geöffnete Tür in den anderen Raum zu sehen. Im Gegensatz zu den vorigen Schwenks und Fahrten ist diese Bewegung mit der Hand ausgeführt (bzw. wahrscheinlich mit einer geschulterten Kamera). Die schnelle Bewegung paßt, auch wenn sie nicht dasselbe Tempo hat, zum Reißschwenk der vorigen Einstellung und auch zum beschleunigten Schnitt davor; das nicht mehr sauber-statische Bild deutet ebenso die Eskalation der Lage an.


Bei McClane bleibt die Kamera nah dran, während er den Schreien zuhören muß.


Gruber spricht wieder zu McClane ins Funkgerät und dreht sich dazu nach links: "You hear that? Talk to me, where are my detonators? Where are they, or shall I shoot another one? Sooner or later, I might get to someone you *do* care about!" Die Kamera bleibt - in Fortführung der vorigen Einstellung - zittrig, was auch dazu paßt, daß Gruber hier die Contenance verliert.


McClane ist jetzt weiter zur Seite gedreht. Er antwortet: "Go fuck yourself, Hans." Man beachte, wie nach der obigen Bewegung zum Endpunkt dieser Konversation die Kontrahenten wieder gegenübergestellt sind und sich diesmal fast anzusehen scheinen.

Auch die anderen Funkgespräche im Film werden nach diesem Muster behandelt: als würden sich die Gesprächspartner tatsächlich im selben Raum befinden und sich ansehen, aufeinander reagieren, voneinander abwenden, und so weiter. Gemäß McTiernans oben zitierter Erläuterung befinden sich die Figuren ja auch im selben "dramatischen Raum". Diese Sorgfalt bei der Inszenierung der Beziehungen zwischen den Figuren ist einer der Gründe, warum STIRB LANGSAM so gut funktioniert: Natürlich wollen wir Schauwerte, aber den Bezug stellen wir zu den Charakteren her.

WEGE ZUM RUHM: Die Bruchstellen im System des Krieges

$
0
0

Es ist eine lange Kamerafahrt, die General Mireau durch den Schützengraben begleitet, als er wie ein König seine Untergebenen besucht und ein paar Männer mit inhaltslosen Platitüden anspricht: "Ready to kill more Germans?" - "Are you married, soldier?" - "I bet your mother's proud of you." Ein Schnitt erfolgt erst, als Mireau einen Soldaten vor sich hat, der mit entrücktem Blick die Fragen nicht beantworten kann. Ein begleitender Offizier weist darauf hin, daß der junge Soldat einen Nervenschock erlitten hat. "There is no such thing as shellshock!", weist ihn Mireau zurecht. Es ist kein Zufall, daß der Schnitt bei genau diesem Treffen passiert: Zwischen der Welt des Generals und der Realität der Soldaten ist eine spürbare Bruchstelle.

Diese Diskrepanz zwischen den Befehlshabern und den Soldaten an der Front zeigt sich schon sehr früh in Stanley Kubricks Kriegsdrama WEGE ZUM RUHM, das 1916 während des deutsch-französischen Stellungskrieges auf Seite der letzteren spielt: Die Generäle flanieren wie die Adeligen durch ein mondänes Schloß und tauschen Höflichkeiten über die geschmackvolle Ausstattung aus, während die Soldaten geduckt durch enge, dreckige Schützengräben huschen und auf dem Schlachtfeld aufgerieben werden. General Mireau erteilt Colonel Dax den Befehl, mit seinen Männern einen Hügel einzunehmen - ein sinnloses Vorgehen, das zahlreiche Opfer fordern wird. Mireau rechnet die zu erwartenden Verluste in sachlichen Prozentzahlen vor, und der Verlust der halben Einheit ist für ihn ein akzeptables Szenario. Erobern will Mireau den Hügel hauptsächlich deshalb, weil ihm von General Broulard eine Beförderung in Aussicht gestellt wurde.

Die prunkvolle Welt der Befehlshaber: Dax (Kirk Douglas, Mitte) verhandelt
mit den Generälen Mireau (George Macready, l.) und Broulard (Adolphe Menjou).


Der Angriff geht schief, die Soldaten kommen unter dem Beschuß des Gegners nicht vorwärts. Im blinden Zorn befiehlt Mireau seiner Artillerie, auf die eigenen Männer zu schießen, um sie voranzutreiben, aber der Soldat weigert sich ohne schriftlichen Befehl. Die Attacke endet in einer tragischen Niederlage. Um von seiner eigenen Schuld abzulenken, läßt Mireau drei willkürlich ausgewählte Soldaten vor ein Kriegsgericht stellen, damit sie wegen Feigheit hingerichtet werden sollen. Während Colonel Dax um das Leben seiner Männer kämpft, kontrastiert der Film weiter die Welten der Kriegsführenden und der Kämpfenden: Die drei Verurteilten kriegen in einem dunklen Gefängnis ihre Henkersmahlzeit ohne Besteck serviert; die Befehlshaber dagegen tanzen in einem prunkvollen Ballsaal Walzer, während General Broulard philosophiert: "One way to maintain discipline is to shoot a man now and then."

Es ist aber nicht zwangsläufig die obere Schicht, die Kubrick in WEGE ZUM RUHM anklagt - es ist das System des Krieges an sich. Er zeigt die Kriegswelt als unmenschlichen Zustand, in dem die Willkür regiert und das Individuum nichts mehr zählt. Mireau hat keine Probleme damit, im Dienste seiner eigenen Ambitionen seine eigenen Männer zu opfern - ob über den Angriffsbefehl, über das Kriegsgericht, oder über die Anweisung, das Feuer auf die eigenen Soldaten zu eröffnen. Der onkelhafte Broulard klagt über die Kritik, der sich die Befehlshaber stets ausgesetzt sehen, und ist selber so zynisch, daß er Dax' Versuche, das Leben seiner Soldaten zu retten, als Versuch um eine Beförderung interpretiert. Ein Leutnant in Dax' Einheit bringt während einer Nachtpatrouille alkoholisiert versehentlich einen Kameraden um - und wählt dann den Augenzeugen Paris aus, als es darum geht, wer vor das Kriegsgericht soll. Im Kriegszustand ist sich eben jeder selbst der Nächste, und das System unterstützt und fördert diese Haltung.

Die beengte, dreckige Welt der Soldaten: General Mireau
(George Macready, vorne) begrüßt als König seine Untergebenen.


Noch etwas fällt auf: Die Abwesenheit des Feindes. Natürlich fliegen den Soldaten Kugeln und Bomben um die Ohren, und natürlich sterben viele von ihnen bei dem vergeblichen Angriff auf den Hügel. Aber Kubrick zeigt uns die feindlichen Soldaten nie: In der meisterlich gefilmten Attacke, in der die Kamera stets von rechts nach links gleitet (wie auch die Soldaten in den Einstellungen von rechts nach links stürmen), sehen wir das ganze Chaos des Schlachtfeldes, die Explosionen, die Leichen - nur die deutschen Soldaten sehen wir nie. Die Kamera kommt zum Stillstand, als auch der Angriff zum Erliegen kommt, und wir blicken aus Sicht der Soldaten in Richtung eines Bunkers - der dann ebenso wie die anstürmenden Männer im Qualm verschwindet. Daß der Feind gewissermaßen unsichtbar bleibt, unterstreicht die bittere Erkenntnis des Films: Der "Gegner" ist ein Konstrukt des Krieges; der Mord im Krieg geschieht schon dadurch, daß jemand seine Soldaten in die Schlacht schickt.

Komplett ausgeklammert wird der Feind aber dann doch nicht: Im Epilog des Films kommt Dax an einer Kneipe vorbei, in der der Betreiber den johlenden Soldaten eine junge Kriegsgefangene vorführt. Das verängstigte Mädchen wird gezwungen, vor der versammelten Mannschaft zu singen - und plötzlich werden die Männer still und fangen an, ihre Melodie mitzusummen. Die genaue Bedeutung der Szene ist so wenig greifbar wie die einer anderen Schlußszene mit Gesang in einem anderen Kriegsfilm: THE DEER HUNTER. Ist die Sequenz ein Versuch, den desillusionierten Film mit einem Ausblick auf Menschlichkeit und Völkerverständigung zu versehen? (Wenn ja, ist der Ansatz plump und wenig überzeugend.) Ist die Szene ein weiterer zynischer Kommentar zum Schicksal der Soldaten, nachdem Dax beim Zuhören den Befehl erhält, mit seinen Männern wieder an die Front zu kommen? Es gibt keine klare Antwort - aber der Blick auf die angesprochene Bruchstelle zu Beginn des Films bietet eine mögliche Interpretation: Vielleicht handelt es sich bei der Tatsache, daß die Soldaten so ergriffen mitsingen, um eine weitere Diskrepanz zwischen zwei Realitäten. Die junge Frau, die sie da zu Tränen rührt, gehört zum Feind, und nur wenige Minuten später werden die Männer ausrücken, um eben diesen Feind wieder zu töten - wenn sie nicht vorher Opfer des Systems werden.




Wege zum Ruhm (US 1957)
Originaltitel: Paths of Glory
Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, Calder Willingham, Jim Thompson, nach dem Roman von Humphrey Cobb
Kamera: George Krause
Musik: Gerald Fried
Darsteller: Kirk Douglas, Ralph Meeker, Adolphe Menjou, George Macready, Wayne Morris, Richard Anderson, Joseph Turkel, Susanne Christian

FÜR KÖNIG UND VATERLAND - Feigheit und Mitgefühl auf filmischer Bühne

$
0
0

Joseph Loseys Kriegsdrama FÜR KÖNIG UND VATERLAND (im Original: KING AND COUNTRY) ist in vielerlei Hinsicht das britische Gegenstück zum sieben Jahre zuvor erschienenen PATHS OF GLORY von Stanley Kubrick: Ein Soldat steht wegen Fahnenflucht vor dem Kriegsgericht, und der verteidigende Offizier muß im Prozeß feststellen, daß das Schicksal des jungen Mannes eine schon zuvor abgemachte Sache ist.

Bei dem Soldaten handelt es sich um Private Hamp, der sich freiwillig zum Kriegsdienst meldete und mittlerweile schon drei Jahre an der Front verbracht hat - bis nun seine komplette Einheit bis auf ihn ausradiert wurde und er dabei gefaßt wurde, wie er nach Hause gehen wollte. Für den Prozeß wird ihm Captain Hargreaves als Pflichtverteidiger abgestellt - ein Offizier, der zunächst nicht viel von Hamp hält, aber mehr und mehr versteht, daß der junge Soldat unter einem Nervenschock leidet. Der Arzt der Kompagnie findet diese Behauptung natürlich haltlos und ist überzeugt, daß der Mann simuliert. "There is no such thing as shellshock", bellte ja auch schon General Mireau in PATHS OF GLORY.

Cpt. Hargreaves (Dirk Bogarde, links) und Pvt. Hamp (Tom Courtenay).

Fast mehr noch als bei Kubrick ist Loseys Film ein Krieg ohne Feind: Wo Kubrick immerhin eine Schlacht zeigte und darin aber den sichtbaren Feind aussparte, existiert der Gegner bei Losey nur als abstrakte Situation. Im Hintergrund sind den Film über beständig Explosionen zu hören, aber gekämpft wird hier nur innerhalb der eigenen Reihen: Die gesamte Geschichte spielt sich in einer dreckigen Bunkeranlage ab, und die Befehlshaber entscheiden mit Beiläufigkeit über Leben und Tod ihrer eigenen Männer. Auch hier wird der Gedanke geäußert, daß eine Hinrichtung eines "feigen" Soldaten die Motivation der restlichen Männer steigern wird, die bald wieder in die Schlacht ziehen müssen. In so einer Welt braucht es eben keinen Feind, damit Menschen sterben.

Man merkt dem Drehbuch von Evan Jones an, daß es sich bei KING & COUNTRY um die Verfilmung eines Theaterstücks handelt - John Wilsons HAMP, das wiederum auf dem Roman RETURN TO THE WOOD von James Lansdale Hodson basiert. Weite Strecken des Films sind statisch und dialoglastig, das Herzstück bilden die langen Gespräche zwischen Hamp und Hargreaves sowie das Kriegsgericht selber. Losey und sein Kameramann Denys Coop sind darauf bedacht, für diese Bühnenhaftigkeit filmische Bilder zu finden: In hartem Licht und trostlosen Schatten zeichnen sie die Bunkeranlage als gleichzeitig realistisch beengten wie auch als stilisiert komprimierten Raum; im für diese Bildgestaltung perfekten 4:3-Format wirkt jede Einstellung wie ein beklemmender Kasten, der immer durch Wände und Finsternis geschlossen bleibt, und in den sich die Darsteller hineinquetschen müssen, um darin agieren zu können. Es ist ein sehr stimmungsvoller, dramatischer Look, der viele der Szenen trägt.

Pvt. Hamp (Tom Courtenay) in seiner improvisierten Zelle.

Die Bilder stellen ein interessantes Gegenstück zu Kubricks Film dar, dessen Einstellungen nicht weniger komponiert waren und doch so anders wirken. Wo Kubrick mit Gegensätzen arbeitet, zum Beispiel im Hinblick auf weite Räume und geschlossene, und seine Kamera oft in Bewegung hält, inszeniert Losey in vielen Momenten eher wie ein Photograph - hier und da setzt der Film sogar tatsächliche Photographien von gefallenen Soldaten ein, die das Geschehen traurig in der Realität verankern. Bewegung findet hier meist nur in knappen Fahrten und Schwenks statt - oder in den seltenen Fällen, wo Losey die Innenräume der Bunkeranlage verläßt: Zu Beginn gleitet die Kamera über ein Kriegsdenkmal, fährt daran herauf und herab. Dann wird zu einer Explosion geschnitten, und die Kamera schwenkt in ähnlicher Manier über einen vom Regen in Schlamm und Matsch verwandelten Kriegsschauplatz, wodurch das Majestätische des Denkmals effektiv konterkariert wird.

Den kontrollierten Bildern steht eine interessante Notdürftigkeit in der Ausstattung gegenüber. Vieles an der Anlage ist improvisiert: Hamps Zelle wird nur durch ein Gitter geschlossen, das mal der Kopfteil eines Messingbettes gewesen zu sein schien; die am Boden liegenden Bretter können kaum die durch den Dauerregen entstandenen Schmutzlachen abdecken. Das Kriegsgericht besteht aus einige schmucklosen Holztischen und -stühlen - wie auch die Besetzung des Gerichts provisorisch erfolgen mußte.

Ein reißerisches Alternativposter zeigt den traurigen Schluß des Films.

Eher plump wirkt dagegen der Symbolismus, den Losey an manchen Stellen schlichtweg zu offensichtlich gestaltet. Da treiben Soldaten Ratten aus einem toten Pferd heraus und stecken eine davon in einen (ebenso mit Draht improvisierten) Käfig - das würde als Bild für die Menschen auf dem Schlachtfeld durchaus reichen. Aber dann halten sie mit der Ratte eine höhnische Nachäffung des Gerichts ab, und das ist in einem Film, der schon mit einer gewissen unfilmischen Bühnenhaftigkeit kämpfen muß, einfach zu viel des Ausgesprochenen.

In gewissem Sinne endet auch KING & COUNTRY wie PATHS OF GLORY mit einer Sequenz, die Menschlichkeit suggerieren kann, aber vielleicht auch eigentlich das Gegenteil davon zeigt. Dort summten Soldaten ergriffen das Lied einer Kriegsgefangenen mit, bevor sie wieder in den Kampf gerufen wurden. Hier muß Hargreaves dem Mann den Gnadenschuß geben, den er trotz aller Bemühungen nicht verteidigen konnte. Für sich genommen ist es ein Akt der Mitgefühls, daß er ihn erlöst. Die traurige Erkenntnis des Films ist aber wohl, daß der Krieg eine Welt schafft, in der wir eine solche Situation als Teilnahme verstehen müssen.




Für König und Vaterland (UK 1964)
Originaltitel: King & Country
Regie: Joseph Losey
Buch: Evan Jones (nach dem Roman von James Lansdale Hodson und dem Bühnenstück von John Wilson)
Kamera: Denys Coop
Musik: Larry Adler
Darsteller: Dirk Bogarde, Tom Courtenay, Leo McKern, Barry Foster, Peter Copley

Close-Up: Der Anfang von SPEED - Das Prinzip der Bewegung

$
0
0
 
Im Zuge meiner Close-Up-Reihe, in der ich einzelne Filmszenen genauer ansehe, möchte ich auch bei einigen Filmen den Beginn unter die Lupe nehmen: Mit welchem Bild oder mit welchen Bildern beginnt der Film? Welche Themen werden schon durch die ersten paar Sekunden angeschnitten? Welche Besonderheiten fallen in diesen Eingangsmomenten auf?
 
Nachdem ich unlängst über Jan De Bonts SPEED geschrieben habe, möchte ich dessen erste Sequenz etwas genauer unter die Lupe nehmen. Wie holt ein Film, der die Bewegung als Grundprinzip in der Story verankert hat, den Zuseher in die Geschichte? (Kameramann bei SPEED war Andrzej Bartkowiak.)

(Wie immer gilt: Ein kommentiertes Bild entspricht einer Einstellung. Wenn mehrere Bilder untereinander stehen und dann erst kommentiert werden, handelt es sich um eine Fahrt oder einen Schwenk.)
 










Die allererste Einstellung des Films (nach dem 20th-Century-Fox-Logo) ist eine sehr lange Kamerafahrt: Aus dem Schwarz gleitet die Kamera einen Fahrstuhlschacht herunter, regelmäßig schieben sich Metallverstrebungen in den Vordergrund (das Schwarz zu Beginn stellt auch eine solche Verstrebung dar). Das Licht ist ebenso gleichmäßig verteilt, aber spärlich: Pro Stockwerk werfen drei Lampen etwas Licht in den Schacht, der Rest verschwindet im Dunkel. Interessant dabei zunächst der Blickwinkel: Die Kamerabewegung erfolgt zwar vertikal, der Schacht erweckt durch den schrägen Blickwinkel aber den Eindruck einer horizontalen Breite - wir sehen links und rechts die Wände nicht.

Hinter den Verstrebungen tauchen die einzelnen Credits auf, die dann wieder hinter der nächsten Verstrebung verschwinden. Nur einmal kommt die Kamerafahrt ins Stocken: Als der Titel SPEED von links ins Bild geschoben wird, hält die Kamera beinahe komplett an - dann fliegen uns die Buchstaben entgegen und die Fahrt geht im selben gleichförmigen Tempo weiter. Zweimal sehen wir einen Fahrstuhl durch das Bild kommen. Rechts sieht man im Halbdunkel die Zahlen, die das Stockwerk markieren: Wir beginnen im 41. Stock und kommen im 4. Untergeschoß an.

Diese Titelsequenz führt nicht nur den Schauplatz des ersten Akts ein, sondern spiegelt auch das Prinzip wider, daß sich der Film immer in Bewegung hält - selbst bei der kurzen Pause der Fahrt (als der Filmtitel ins Bild kommt) bleibt die Kamera nicht vollständig stehen.

Unten angekommen - ab dem Credit "Directed by Jan De Bont" - fährt die Kamera auch seitlich weiter und geht durch den Raum unterhalb der Fahrstuhlschächte. Mit Blick auf eine Tür endet die Einstellung.



Die Kamera springt zu einer näheren Einstellung auf das "Caution"-Schild über der Tür. Die Abwärtsbewegung wird nochmal fortgeführt, da die Kamera leicht nach unten zur Tür schwenkt. Die Tür geht auf, ein Sicherheitsbeamter schaut in den Raum - dann will er die Tür schließen, zögert aber und macht sie wieder auf.


Die nächste Einstellung ist ungefähr der POV des Sicherheitsmanns: Hinten im Raum bewegt sich etwas, das wir nur als Schatten vor einem kaum sichtbaren Licht (rechts im Bild) wahrnehmen. Man beachte, wie die Perspektive als Spiegelung zum Blickwinkel im Fahrstuhlschacht paßt. Auch hier bewegt sich die Kamera fast unmerklich weiter (sie schwenkt minimal nach rechts).



Seitlich fährt die Kamera neben dem Sicherheitsmann her, der in den Raum geht. Auch diese Einstellung ist ein Gegenstück zu der Fahrt durch den Schacht: Wir bewegen uns in die entgegengesetzte Richtung zum Ende dieser ersten Fahrt, und wo im Schacht eine vertikale Bewegung immer wieder horizontale Trennlinien aufwies (die Metallverstrebungen), sind hier in einer horizontalen Fahrt diverse vertikale Linien zu sehen (Metallstangen, Stützpfeiler).



Jetzt fährt die Kamera vor dem Sicherheitsmann her. Zusammen mit der ersten eingeführten Figur werden wir also weiter in den Raum geholt.





Die nächste Einstellung ist wieder der POV des Sicherheitsmannes; die Kamera gleitet im selben Tempo wie bei der vorigen Einstellung weiter durch den Raum. Am Boden ist eine Tasche sichtbar, die Kamera schwenkt während der Fahrt leicht nach unten, dann wieder zurück. Dann schwenkt die Kamera im Weitergehen nach rechts, um einen Blick auf die Person hinter dem Betonpfeiler zu erhaschen. Der Schnitt erfolgt nur einen kurzen Moment, bevor wir die Person richtig sehen können.



Wir befinden uns hinter der ominösen Person, die Kamera schwenkt mit dem Sicherheitsmann mit, der von links ins Bild kommt, und bewegt sich gleichzeitig etwas um die andere Person herum (quasi nach hinten). Auch hier bleibt die Kamera in der letzten Position nicht ganz ruhig. Der Securitymann weist darauf hin, daß der Bereich nicht betreten werden darf, und will eine Arbeitsgenehmigung des Technikers sehen. Noch immer sehen wir den anderen Mann nur angeschnitten. Die Einstellung endet damit, daß sich der Techniker bückt ...



... und in die zuvor gezeigte Tasche am Boden greift, auf die wir jetzt blicken. Wir sehen, daß an seiner Hand offenbar ein Daumen fehlt. Er greift nach etwas unter einem Blatt Papier und hebt es hoch. Die Kamera schwenkt bei dieser Aufwärtsbewegung mit nach oben.


Eine engere Version der Einstellung auf den Sicherheitsmann, der auf das Blatt Papier schaut. Der verdächtige Techniker nimmt hier fast den halben Bildausschnitt ein.


Der Techniker rammt dem Sicherheitsmann plötzlich etwas in den Kopf. Der Anfang der Bewegung wurde in der vorigen Einstellung schon ein paar Frames angedeutet. Noch immer sehen wir den anderen Mann nicht genau, weil sein Gesicht von seinem Arm verdeckt wird.


Erst jetzt kriegen wir das Gesicht des Mörders zu sehen: Das ist der Bombenleger, der uns den ganzen Film über beschäftigen wird. Das Licht, das sich in seinen Augen widerspiegelt, gibt seinem Blick ein wahnsinniges Funkeln. "Nothing personal", sagt er zu seinem ersten Opfer.



Der Sicherheitsbeamte fällt tot zu Boden, die Kamera schwenkt mit seinem Fall nach unten.


Schnitt zur nächsten Szene: Durch den Blick auf die Wolkenkratzer scheinen wir jetzt zum ersten Mal draußen zu sein - wobei sich sogleich feststellt, daß wir uns immer noch im Gebäude befinden, weil die Kamera zurückgeht und zeigt, daß wir aus dem Fenster eines Büroraums blicken.

Interessant ist bei der Betrachtung dieser Anfangssequenz auch, daß die Szene im Skript konventioneller aufgelöst wurde:

FADE IN:

EXT. OFFICE BUILDING - TWILIGHT

A highrise in downtown L.A., framed tall against the mountains. People stream out of the front door, leaving work.

CUT TO:
 
INT. BASEMENT

In the near darkness of basement, a security guard makes his way into an inner cellar. [...]

De Bont verzichtet also auf den üblichen Establisher, der das Gebäude von außen zeigt, und führt uns gleich mit der ersten Einstellung viel näher an das Geschehen heran. Erst nach der Sequenz kommt ein Bild eines Hochhauses - das aber auch nur ein vermeintlicher Establisher ist, weil wir uns immer noch im selben Gebäude befinden.

Die Sequenz endet auch früher als im Skript:

He drags the body into a dark corner, grabbing a duffle bag from out of the shadows. Then checking his watch, he goes to the panel and begins making adjustments of his own. WE PAN over to the door of the panel. It reads: ELEVATORS.

Durch den Beginn der Sequenz im Fahrstuhlschacht ist der Start in den Film also nicht nur origineller, sondern zeigt uns eleganter, wo wir uns befinden bzw. womit das, woran der Techniker arbeitet, zu tun hat.

Diese Eingangssequenz mag klein und kompakt sein, aber sie führt kreativ in den Film, etabliert sofort Schauplatz und visuelles Prinzip des Films, und führt den Gegenspieler gekonnt durch eine Reihe von verdeckten Einstellungen ein. Rein handwerklich ist auch beachtenswert, wie die einzelnen Bilder in Komposition und Bewegung zusammenpassen und sich ergänzen - eine schöne Veranschaulichung des Prinzips der "visuellen Musik", von dem John McTiernan (bei dessen Film STIRB LANGSAM De Bont Kameramann war) in einem Interview mit dem Venice Magazine berichtete - eine Idee, die er vom tschechischen Filmemacher Ján Kadár übernommen hat:

He [Kadar] had a whole sense that you had to approach filmmaking like you were composing a piece of music. It wasn't about making a translation from a literary source. To decide what the next note is in a piece of music, you don't think about the plot, or what it means, you think about: what does it sound like? Is it in the right rhythm, the right key? So the montage in a film needs to be in the same key, and if you're going to change key, you'd better transpose it into the other key, as if you were composing a concerto. In color and lighting also, there are visual melodies.

Close-Up: Die Probleme der Wingsuit-Szene in LARA CROFT: TOMB RAIDER - DIE WIEGE DES LEBENS

$
0
0

Im heutigen Close-Up will ich mir mal eine Sequenz vorknöpfen, die ich trotz üppiger Schauwerte nicht befriedigend inszeniert finde. In meinem Text zu Jan De Bonts LARA CROFT: TOMB RAIDER - DIE WIEGE DES LEBENS habe ich schon angedeutet, daß der Film spaßig und unterhaltsam ist, allerdings auch nicht wahnsinnig spannend oder involvierend. Eine der Sequenzen, auf die diese Beschreibung absolut zutrifft, ist die Skydiving-Szene, in der Lara Croft und ihr Freund auf der Flucht vor Til Schweiger und seinen Lakaien vom Dach eines Hochhauses springen - mit einem sogenannten "Wingsuit", mit dem sie dann über die Dächer der Stadt fliegen und auf einem Schiff landen können.

Die Sequenz beginnt auf der deutschen DVD bei ca. 01:05:15. Kameramann ist David Tattersall. (Wie immer gilt: Ein kommentiertes Bild entspricht einer Einstellung. Wenn mehrere Bilder zusammengefaßt kommentiert werden, handelt es sich um eine Fahrt, einen Schwenk o.ä.)


Lara Croft (Angelina Jolie) und Terry Sheridan (Gerard Butler) sind vor den Schergen von Dr. Reiss auf das Dach eines Wolkenkratzers geflüchtet. Sie packen die beiden Wingsuits aus, die dort oben bereitstehen. Croft glaubt erst, daß es sich um einen Fallschirm handelt, aber er korrigiert: "Something a little faster". Sie lacht, als sie erkennt, worum es sich handelt.


Sean (Til Schweiger) kommt mit seinen Lakaien mit dem Lift auf dem Dach an und schnauzt die Liftführerin an: "Come on, grandma!" Die (Hand-)Kamera ist recht dicht vor der Gittertür und schwenkt mit dem ankommenden Fahrstuhl leicht nach oben und rechts mit.


In einer mit der Handkamera geführten Totalen sehen wir Sean und seine Leute aus dem Lift stürmen.





Die Handkamera schwenkt von Sheridans Füßen an ihm nach oben, dann während seines Dialogs mit Lara nach rechts zu ihr und wieder zurück zu ihm. Beide ziehen sich ihre Anzüge fertig an. Er sagt ihr: "Our rendezvous point is two and a half, maybe three miles." Sie antwortet: "You're aware that no one's ever gone further than one mile?" Er erwidert: "I am now". Die Einstellung packt die beiden (wie auch schon einige vorige Bilder) gut in einen räumlichen Kontext: Sie befinden sich sichtbar weit über den sonstigen Häusern der Stadt.


Sean kommt mit seinen Leuten um die Ecke gelaufen. "This way!" Die Einstellung ist beinahe ganz statisch.



Wieder Handkamera: Wir schwenken von Sheridan nach links zu Croft. "Right, you go first", sagt er. "No, you go first", erwidert sie.


Drei der Schurken kommen näher. Die Kamera schwenkt mit ihnen nach rechts mit.


Sheridan schaut nach links (also zum rechten Bildrand), wo offenbar die drei Handlanger angelaufen kommen, dann in die andere Richtung.


Hier kommt Sean mit drei weiteren Männern angelaufen. Die Kamera schwenkt mit ihnen nach rechts. Sean schießt auf Croft und Sheridan.



Hinter den beiden treffen die Kugeln auf das Baugerüst. "I'll go first!", ruft sie, und beide laufen gleichzeitig los. Die Kamera geht nach links mit ihnen mit.

Halten wir mal einen Moment inne, um über die Geographie der einzelnen Shots zu reden. In den drei Einstellungen, die wir von den heranlaufenden Schurken sehen, wird zwar klar, daß die Burschen näher kommen, aber wir wissen nicht, wo wir diese Orte im Verhältnis zu unseren Helden verstehen sollen. Offenbar gibt es zwei Wege zu dem Punkt, wo die beiden stehen - deswegen kommen drei von der einen Seite angelaufen und vier von der anderen. Da wir die Orte nur rudimentär im Kopf zusammenfügen können, bleibt z.B. die Entfernung der einzelnen Positionen unklar, und damit wird auch die Relation der einzelnen Einstellungen zueinander schwammig.

Kurioser ist aber noch die Tatsache, daß die Schüsse von Sean *hinter* den beiden einschlagen. Beim Anziehen der Wingsuits haben wir gesehen, daß die beiden am Rand des Wolkenkratzers stehen. Vor dem Sprung haben sich beide (für uns nicht sichtbar) umgedreht, weshalb jetzt der Rand vor ihnen liegen muß. Sean kann also nicht vor ihnen stehen; er könnte bestenfalls schräg seitlich schießen - aber auch da würde er eigentlich in der Luft stehen. Da er zuvor an einer Ecke gezeigt wurde, müßte er sich eigentlich hinter den beiden befinden, d.h. die Kugeln müßten in Richtung der Kamera fliegen.


Die drei Männer von der einen Seite kommen jetzt ebenfalls in Schußreichweite; die Kamera schwenkt nach rechts mit ihrer Ankunft mit.

Offenbar kommen die drei aber doch nicht aus der anderen Richtung wie Sean - sie zielen nämlich ebenfalls zum rechten Bildrand (beziehungsweise: zwei zielen seitlich, der mittlere zielt eher in Richtung der Kamera - was eher richtig zu sein scheint).


In einer seitlichen, statischen Perspektive sehen wir Croft und Sheridan (ab hier offenkundig zwei Stuntdoubles) auf den Rand des Wolkenkratzers zulaufen, um zu springen. An der Säule hinter ihnen sowie am Gerüst rechts prallen weitere Schüsse ab - es müßten die von Sean und seinen Mannen sein.

Wir sehen hier, daß es links von den beiden ebenfalls abwärts geht - auch Sheridans Blick nach links in der obigen Einstellung und der dazugehörige Shot mit den heranlaufenden drei Männern paßt also nicht hundertprozentig zur Geographie der Szene.




Wir sehen beide in einer spektakulären Einstellung in die Tiefe springen. Die Kamera schwenkt mit ihnen nach unten mit - es wirkt fast so, als würde sie mit ihnen herunterfallen.






In einer sehr weit entfernten Einstellung sehen wir die beiden weiter nach unten fallen. Die Kamera schwenkt mit ihnen in die Tiefe. Das links auftauchende nähere Hochhaus macht noch einmal klar, wieviel höher der Wolkenkratzer ist, von dem Croft und Sheridan gesprungen sind.



Die Kamera fährt an Sean und seine Mannen heran und schwenkt dabei nach rechts. "Holy cow!", sagt er verblüfft, dann winkt er in einem netten Gag seinen Lakaien zu: "Follow her".

Man beachte, daß alle immer noch in die Richtung schauen, in die sie auch geschossen haben - sprich: dorthin, wo Croft und Sheridan standen. Ich denke, gleich nach dem Sprung (also nach der Einstellung direkt hinter den beiden) hätte diese Reaktion besser gepaßt.


Zwei von Seans Schergen überlegen verblüfft, ob die Anweisung "Follow her" ernstgemeint war oder nicht.



In der Draufsicht sehen wir Croft und Sheridan weiter fallen, bis sie die Arme ausbreiten und durch die im Wingsuit angebrachten Flügel im Fall gebremst werden. Die Kamera schwenkt leicht nach links unten und versucht, die beiden mittig ins Bild zu kriegen.







Die Kamera schwenkt nach links mit dem Flug der beiden mit.


Nochmal ein Reaction Shot auf den frustrierten Sean - der offenbar immer noch auf die Stelle schaut, von wo aus beide gesprungen sind.










Die längste Einstellung der Szene: Wir sind seitlich neben Croft und Sheridan, die Kamera schwenkt weiter mit dem Flug mit und dreht sich nach und nach so, daß wir uns hinter ihnen befinden - und irgendwann wieder auf sie herunterblicken. Die beiden fliegen über verschiedene Teile der Stadt - Häuser, Bäume, Straßen, Parkplätze - bis sie irgendwann das Wasser erreichen. In einer netten (und vermutlich unbeabsichtigen) Symmetrie droht die Kamera die beiden Figuren einmal nach unten und später einmal nach oben aus dem Bild zu verlieren.




Jetzt wechseln wir die Perspektive und blicken nach oben zu den beiden. Erst öffnet einer seinen Fallschirm, dann der andere - die Kamera schwenkt zu der Person rechts im Bild (in der Entfernung ist nicht feststellbar, ob es Croft oder Sheridan ist), die beim Öffnen eine Art Salto macht.



Wir sehen ein Schiff auf dem Wasser, zu dem die beiden Personen am Fallschirm hinfliegen. Die Kamera bewegt sich in einer ganz leichten Kreisfahrt im Uhrzeigersinn fast unmerklich auf das Schiff zu. Mit dem durch die Sonne etwas diffusen und orangefarbenen Licht ist diese Einstellung wohl die schönste der Szene.



Die Kamera blickt vom Schiff aus zu Croft (jetzt wieder Angelina Jolie) und schwenkt mit ihr nach unten.




In einer näheren Einstellung legt Croft den letzten Meter des Falls zurück, landet sanft und marschiert vorwärts. Jemand ruft "Hi Terry!", sie dreht den Kopf und strahlt.



Wir sehen in einer seitlichen Einstellung einen Mann angelaufen kommen, links folgt ihm ein zweiter. "Good to see you!", ruft er. Die Kamera schwenkt nach rechts mit seiner Bewegung mit.



Jetzt landet auch Sheridan. Wieder schwenkt die Kamera mit seinem letzten Fallmoment mit. Crofts Kopf kommt dabei auch ins Bild.




Die Figuren auf dem Frachters gehen über das Deck nach innen. In einem großen Schwenk aus einem Helikopter heraus entfernt sich die Kamera und kreist weiter im Uhrzeigersinn um das Boot, bis wir im Hintergrund wieder die Skyline gegen die Abenddämmerung sehen.

Ein Problem der Szene, nämlich das der fahrigen Geographie der einzelnen Bilder, haben wir in der Bild-für-Bild-Analyse jetzt schon gesehen. Wobei das nicht zwangsläufig einen Beinbruch für die Sequenz darstellt: Die Szene funktioniert durchaus. Dennoch möchte ich noch ein paar weitere Gedanken anschneiden, warum die Sequenz zwar schön aussieht, aber nicht sehr packend ist.

De Bont kommentiert selber ein Problem der Szene in einem Interview mit Ain't It Cool News:

Like the sky flying sequence in TOMB RAIDER 2 in Hong Kong, where these two guys jumped from a building - this is the third highest building in the world - and they are *flying* in these special suits over Hong Kong for a couple of miles... and then we landed them onto a moving freighter. Normally that would be all visual effects, special effects, bluscreen... we shot it all for real. It is the most spectacular scene, and I didn't even use many cuts. I used... very long-lasting shots, and it made it so much more spectacular. The only funny thing is that, we as audiences, we think that because everything is possible that everything is now special effects. And us filmmakers, we have a little bit of a problem area that when they see the sequence, which is all real and quite unbelievable, they think this, of course, is a visual effect, and that those people were never flying. So we're kind of working to fight what audiences think that this might be. We created this world of CGI, and it was kind of detrimental to the degree that audiences automatically think that this is a visual effects stunt, and it's not.

Ich denke, der Knackpunkt liegt aber woanders: Wir sehen zwei Stuntleuten bei einem beeindruckenden Stunt zu. De Bont betont an vielen Stellen, wie wichtig es ist, die Schauspieler möglichst selber Stunts ausführen zu lassen oder mit den Effekten ins Bild zu rücken, um die Sequenzen realistischer zu gestalten - hier haben wir eine lange Szene, in der ganz eindeutig ein Stunt vollzogen wird, während die Darsteller Pause haben. Natürlich hätte De Bont Jolie und Butler nicht tatsächlich vom Hochhaus springen lassen können - aber vermutlich hätte mehr Effektarbeit die Szene tatsächlich wirklicher gestaltet: Wenn wir zwischendurch Jolie und Butler sehen würden - in Nahaufnahmen, die den Eindruck des Fliegens vermitteln, oder in Computertricks, bei denen wir das Gefühl kriegen, daß die Charaktere tatsächlich über der Stadt fliegen - dann wäre die Szene nicht etwas, das gefühlt nicht viel mit unseren Helden zu tun hat.

Ein Vergleich mit einer anderen Wingsuit-Szene zeigt noch einen anderen Haken: In Michael Bays TRANSFORMERS 3 springt eine militärische Einheit in solchen Anzügen über Chicago ab, während die Stadt von den Decepticons angegriffen wird. Die Burschen werden von den Robotern verfolgt und beschossen und drohen immer wieder, gegen Wolkenkratzer zu stürzen oder an engen Stellen hängenzubleiben. Sprich: Die Szene dort birgt eine Gefahr in sich. In TOMB RAIDER 2 ist der Sprung mühelos, eine entspannende Sightseeing-Tour über der Kulisse von Hong Kong. Wieso stürzen Sean und seine Mannen nicht zumindest anfangs an den Rand des Wolkenkratzers und schießen auf Croft und Sheridan? Wieso segeln die beiden mit dem Können jahrelanger Profis problemlos und koordiniert durch die Lüfte und landen geschmeidig auf einem Frachter, ohne mit der Wimper zu zucken? Wieso wird anfangs die Info eingeführt, daß noch nie jemand so weit geflogen ist, wenn diese Herausforderung dann doch nie ins Gewicht fällt? Kurzum: Die Szene ist schön, aber dramatisch keine Spur ausgekostet.

Und da kommen wir noch zu einem Punkt, den ich auch schon im Text zum Film angeschnitten habe: Croft meistert einfach jede Situation ohne Schwierigkeiten und nimmt die Gefahr stets auf die leichte Schulter. Das macht sie zwar cool, aber nicht sehr menschlich - und deswegen zittert man auch nie mit ihr mit, wie man es bei vergleichbaren Helden tut, die zwar letztlich auch alles überstehen, aber dafür über sich selber hinauswachsen müssen. Wir sehen in der obigen Sequenz, wie der Wingsuit sie zum Lachen bringt - das nimmt dem Sensationellen doch schon gleich die Ungeheuerlichkeit. Auch gleich nach der Landung strahlt sie fröhlich in Richtung Zuseher. Da wir dazwischen auch keine Schwierigkeiten präsentiert bekommen haben, besteht für uns als Zuschauer auch wenig Anlaß, Adrenalin zu produzieren.

GALLIPOLI: Ein weit entfernter Krieg

$
0
0

Zwei Freunde stapfen durch die australischen Outbacks, nachdem der Zugwaggon, auf den sie aufgesprungen sind, im Nichts abgesetzt wurde und der einzige Weg zu ihrem Ziel, der Stadt Perth, durch die Wüste führt. Es ist Mai 1915, und Australien - erst seit ein paar Jahren nicht mehr britische Kolonie - nimmt aus Loyalität zu Großbritannien am Krieg teil. In diesem Niemandsland treffen unsere beiden Helden einen Kameltreiber, der ihnen etwas zu essen und zu trinken gibt. Er fragt sie, warum sie nach Perth wollen. "I'm off to the war", sagt Archie, der jüngere der beiden. "What war?", will der alte Mann wissen. Archie erzählt ihm vom Krieg gegen Deutschland, und daß Australien in der Türkei kämpft, weil die deutsche Alliierte sind. "You learn something every day", brummt der Mann verblüfft.

Der Krieg ist sehr fern und bleibt lange Zeit über eine sehr vage Vorstellung in Peter Weirs GALLIPOLI, der von der tragischen Schlacht auf der türkischen Halbinsel erzählt, bei der so viele Soldaten gefallen sind, daß sowohl die Australier als auch die Türken einen eigenen Feiertag im Gedanken daran haben. Die Grausamkeit der Schlacht und ihre Sinnlosigkeit - wie in Stanley Kubricks WEGE ZUM RUHM führt auch hier ein Angriffsbefehl zu nichts anderem als einem Selbstmordkommando - wird von Weir hauptsächlich dadurch eingefangen, wie weit weg der Krieg zunächst bleibt: Über zwei Drittel des Films sind als leichtfüßiger Aufbruch in die große weite Welt erzählt, in der die Realität des Krieges nur gelegentlich durchblitzt. Umso härter trifft uns das Blutvergießen am Ende, und umso größer wirkt die Tragödie davor, weil wir wissen, was auf unsere beiden optimistischen Protagonisten zukommen wird.

Ein stilisiertes Alternativposter.

Archie ist der blauäugigere der beiden: Ein aufrichtiger und ganz naiver junger Mann von 18 Jahren, der nach Perth reist, weil er dort das Mindestalter für den Freiwilligendienst bei der Armee zu umgehen hofft - in seinem Heimatort wissen alle, daß er noch keine 21 ist. Er ist überzeugt, seine Pflicht tun zu müssen, und sieht den Militärdienst als ganz selbstverständlichen Schritt ins Erwachsenenleben. Selbst kurz vor der Schlacht besteht er noch darauf, vorne mitkämpfen zu dürfen. Archies Freund Frank ist ein paar Jahre älter und etwas abgeklärter: Er will eigentlich nach Perth, um dort nach Möglichkeiten zu suchen, zu Geld zu kommen, und interessiert sich nicht für den Krieg. "It's not our bloody war", erklärt er. "It's an English war. It's got nothing to do with us". Später will er dann doch dem Militär beitreten, weil er sich erhofft, als Kriegsveteran später einen besseren Stand zu haben.

Bezeichnenderweise ziehen sich durch den Film immer wieder Motive des Sports und des Wettbewerbs: Schon zu Beginn sehen wir, wie Archie für eine Karriere als Kurzstreckenläufer trainiert. Er läßt sich zu einem wahnwitzigen Wettstreit gegen einen anderen jungen Mann überreden, der ihn provoziert: "Girls run. Men box". (Die Worte treffen natürlich exakt Archies Vorstellung, daß Kampf zur Mannwerdung gehört.) Frank lernt er bei einem Kurzstreckenlauf kennen. Und als die rekrutierten Soldaten in das Trainingslager nach Kairo kommen, sehen wir sie dort als allererstes Rugby spielen. Der Krieg wirkt für diese jungen Männer auch wie ein Spiel, ein sportlicher Wettstreit, den der bessere gewinnen möge. Ein Rekrutierer nennt den Krieg somit logischerweise auch "the greatest game of them all".

Die Wirklichkeit des Krieges wird Archie (Mark Lee, links)
und Frank (Mel Gibson) nur ansatzweise klar.

Es sind wunderschöne Bilder, die Weir und sein Kameramann Russell Boyd hier einfangen - weite Landschaften, wohlige Räumlichkeiten, warme und lebendige Farben. Es paßt zu dieser Welt, in der manche noch nicht einmal etwas vom Krieg gehört haben und alle anderen kaum etwas darüber wissen; der Optimismus der Protagonisten strahlt aus jeder Einstellung. Selbst am Schluß des Films, wenn unsere beiden Freunde in Gallipoli landen, hält Weir den wahren Schrecken bis zuletzt zurück: Erst hören wir nur Schüsse und Explosionen, dann fliegt ein bißchen Schrapnell durch die Gegend. Ein Soldat wird am Arm verletzt. Ein Maschinengewehr des Feindes ist einmal sichtbar. Wir sehen Gräber von gefallenen Soldaten im Hintergrund. Erst in der letzten Viertelstunde bricht dann der ganze sinnlose Horror des Krieges über uns und die Figuren herein. Es ist wie ein Schlag in die Magengrube.

Und dann ist da noch das Schlußbild, ein eingefrorener Moment, der die bestürzende Tragik jedes Krieges einfängt. Es erinnert an das berühmte Photo von Robert Capa, der 1936 im Spanischen Bürgerkrieg ein Bild eines Soldaten im Moment seines Todes schoß. In GALLIPOLI ist es ein Soldat von über 100.000 Gefallenen, und das Standbild verdeutlicht, wie sein ganzes Leben nur auf diesen Punkt hinauslief, wie hier nichts mehr weitergeht, was noch ein reichhaltiges Leben hätte sein können. Wir haben diesen jungen Soldaten gekannt, und wir haben uns fast zwei Stunden lang gewünscht, daß er das Abenteuer, das er sucht, niemals finden wird.




Gallipoli (AUS 1981)
Regie: Peter Weir
Buch: David Williamson, Peter Weir (Story)
Kamera: Russell Boyd
Darsteller: Mark Lee, Mel Gibson, Bill Hunter, John Morris, Ron Graham

IM WESTEN NICHTS NEUES: Sequenzen des Kriegshorrors

$
0
0

Die Generation junger Soldaten, die wir zu Beginn des Films bei der patriotischen Rekrutierungsrede eines eifrigen Schullehrers kennengelernt haben, ist schon fast vollständig den verschiedenen Schrecken des Krieges zum Opfer gefallen, als Paul für einen kurzen Urlaub nach Hause kommt. Längst nicht mehr der idealistische Abenteurer wie noch vor seinem freiwilligen Dienst, besucht Paul auch seine alte Schule und hört dort dieselben flammenden Worte desselben Lehrers - nur die neuen potentiellen Rekruten scheinen diesmal noch jünger geworden zu sein. Als Paul in die Kriegsbegeisterung des Redners einstimmen soll, wehrt er ab und will die Jugendlichen vor dem Kriegsdienst warnen. Er wird dafür als Feigling ausgebuht. Pauls Ohnmacht gehört zu den beklemmendsten Momenten des Films: Als einziger, der die Wirklichkeit des Krieges erlebt hat, kann er doch niemandem davon erzählen - zu verblendet ist sein Umfeld im Eifer der vermeintlichen Pflicht.

Lewis Milestones ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT, das auf Erich Maria Remarques Antikriegsroman IM WESTEN NICHTS NEUES basiert, steckt voll von solch kraftvollen Szenen, die zusammen ein Kaleidoskop des Kriegswahnsinns bilden. Die Geschichte ist auf deutscher Seite im Ersten Weltkrieg angesiedelt, dem "Krieg zum Ende aller Kriege", aber sie könnte überall stattfinden: Wir sehen Verwundete, deren Gliedmaßen amputiert werden müssen, und notdürftig eingerichtete Lazarette, in denen die Soldaten aufgrund mangelnder ärztlicher Betreuung wegsterben. Wir sehen brutale Schlachten und nicht enden wollende Tötungsorgien. Wir sehen die Klaustrophobie in den Barracken der Schützengräben, in denen die Männer durch den dauernden Bombenhagel teilweise einfach verschüttet zu werden drohen. Die jungen Soldaten werden durch einen sadistischen Ausbilder durch den Schlamm geschickt. Es herrschen Hunger und Elend an der Front. Und nach und nach erwischt es jeden der Jungs, die wir zu Beginn noch so optimistisch gesehen haben.


Viele dieser Sequenzen wären auch als alleinstehende Kurzfilme bemerkenswert. An einer Stelle nimmt einer der Soldaten Deckung in einem Bombenkrater auf dem Schlachtfeld zwischen den Schützengräben. Ein feindlicher Soldat greift ihn an, aber er kann ihn mit seinem Bajonett tödlich verwunden. Dann muß er aber die ganze Nacht neben dem Sterbenden ausharren, weil das Feuergefecht zu intensiv ist. Er versorgt den Mann mit Wasser, aber schreit ihn wenige Momente später an, daß er doch endlich sterben soll. Nachdem der Verwundete verblutet ist, fleht der andere ihn an, ihm zu vergeben, und verspricht, die Familie des Mannes zu informieren. Es wird nicht das einzige Mal bleiben, daß in dem Film jemand mit einem Toten spricht.

Die beeindruckendste dieser Szenen ist eine fast siebenminütige Schlachtsequenz, deren Inszenierung das moderne Actionkino um Jahrzehnte vorwegzunehmen scheint. In rasanten Schnitten werden wir mitten in das Kampfgeschehen gesetzt; aus Bodensicht sehen wir die schwarzen Umrisse von feindlichen Soldaten auf uns zustürmen, in schnell aufeinanderfolgenden Einzelshots gehen getroffene Soldaten nieder oder werden durch Granaten zerfetzt - in einer morbiden Einstellung sehen wir nach einer Explosion noch die abgetrennten Hände eines Soldaten am Stacheldraht hängen. Die Kamera blickt über die Schulter der Männer am Maschinengewehr auf die heranrückenden Feinde, dann fegt sie in einer rasanten seitlichen Fahrt den Schützengraben entlang, als wäre sie selber das Gewehr, das die feindlichen Männer niedermäht. Als der Feind den Schützengraben erreicht, löst sich die klare Geographie der von links nach rechts anrückenden Soldaten und der von rechts nach links in Verteidigung schießenden Männer der anderen Seite auf - plötzlich scheint der Feind überall zu sein, er kommt von links und rechts, springt uns entgegen. Die schnelle Schnittfrequenz, die ständige Bewegung der Kamera und die Brutalität des Gezeigten scheinen nicht aus einem Film des Jahrgangs 1930 zu stammen und besitzen selbst heute noch eine unglaubliche Kraft - man kann von dieser Sequenz eine direkte Linie zur Eröffnungsszene von Steven Spielbergs DER SOLDAT JAMES RYAN ziehen.


Allerdings bleibt ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT auch mehr oder weniger eine Sammlung aus einzelnen Sequenzen. Der Film versucht anfangs, die Schicksale einer ganzen Gruppe junger Männer nachzuzeichnen, die wir allerdings nur sehr bedingt als Individuen wahrnehmen - zu knapp werden sie eingeführt, zu wenig unterscheiden sie sich voneinander. Erst nach und nach schält sich Paul Bäumer als zentrale Figur heraus, aber durch die Erzählweise bleiben wir auch zu ihm in gewisser Distanz.

Natürlich paßt die Herangehensweise zum Krieg selbst, der die einzelnen Männer ihrer Individualität beraubt und vornehmlich in Zahlenstärke von ihnen Gebrauch macht. Paul und all die anderen jungen Männer sind Stellvertreter für jeden beliebigen anderen Soldaten, der denselben Kriegshorror durchleben muß und dabei feststellt, daß er dabei nicht als Mensch, sondern als Ressource gesehen wird. Diese Austauschbarkeit ist nirgendwo so spürbar wie in eben jener Szene, wo Paul in seine Schule zurückkehrt: Die leuchtenden Gesichter der patriotischen jungen Zuhörer sind genauso in Szene gesetzt wie anfangs die von Paul und seinen Freunden. "You still think it's beautiful to die for your country. The first bombardment taught us better. When it comes to dying for country, it's better not to die at all", will Paul ihnen erklären, aber keiner hört ihm zu. Von der Realität des Krieges will niemand etwas wissen. Vielleicht ist das der Grund, warum es nie jenen Krieg geben wird, nach dem keine weiteren mehr folgen.




Im Westen nichts Neues (USA 1930)
Originaltitel: All Quiet on the Western Front
Regie: Lewis Milestone
Buch: George Abbott, Maxwell Anderson, Del Andrews, nach dem Roman von Erich Maria Remarque
Kamera: Arthur Edeson
Darsteller: Louis Wolheim, Lewis Ayres, John Wray, Arnold Lucy, Ben Alexander, Scott Kolk, Owen Davis Jr., Walter Browne Rogers

SAW II: Mehr vom Erstling und ein Schritt ins Phantastische

$
0
0

Es war praktisch unmöglich, daß auf den Überraschungshit SAW keine Fortsetzung folgen würde. James Wans Psycho-Horrorthriller hatte sich 2004 als lukrativer und höchst effektiver Nervenkitzel entpuppt, der mit dem Jigsaw-Killer einen interessanten Serientäter etablierte: Ein dem Tode geweihter Mensch, der mit perfiden Fallen andere dazu bringen will, ihr Leben wieder wertzuschätzen. SAW funktionierte im Kopf und gab einem wie seinerzeit das BLUTGERICHT IN TEXAS das Gefühl, heftige Grausamkeiten zu sehen, obwohl eigentlich gar nicht so viel Blut den Bildschirm herunterfloß, wie man meinen könnte. Nebenher jagte der Plot im Eiltempo durch Twists und Überraschungen, und es ist dem erzählerischen Talent von Wan und seinem Autor Leigh Whannell hoch anzurechnen, daß man sich erst hinterher über etwaige Lücken in der Konstruktion Gedanken macht.

Trotz des immensen Erfolges hatten Wan und Whannell aber gar nicht viel Interesse daran, sich einer Fortsetzung zu widmen - woraufhin die Produzenten den hoffnungsfrohen Jungspund Darren Lynn Bousman anheuerten, der schon seit Jahren mit einem SAW-ähnlichen Skript hausieren ging und selbiges nun mit Hilfe von Whannell zu einer tatsächlichen SAW-Fortsetzung umschreiben durfte. Die Geschichte fungiert dabei primär nach dem Prinzip "mehr": Jigsaw, der ja im Erstling nicht gefaßt wurde, hat hier eine Gruppe von Leuten in einem Haus eingesperrt (in Teil 1 waren es nur zwei Menschen in einem großen Badezimmer). Durch das Haus strömt Nervengas, das die Leute innerhalb von zwei Stunden töten wird - wenn sie es nicht schaffen, im mit diversen Fallen ausgestatteten Haus die versteckten Spritzen mit einem Gegenmittel zu finden. Jigsaw wäre natürlich nicht Jigsaw, wenn seine Aufgaben nicht darauf hinausliefen, die Gruppenmitglieder gegeneinander aufzuhetzen - und einer seiner Gefangenen ist der Sohn des Polizisten Eric Matthews, mit dem der Killer nebenher noch ein anderes perfides Spiel spielt ...


Nicht nur das Skript, sondern auch Bousmans Regie orientiert sich am ersten Teil und versucht gleichzeitig, diesen wieder und wieder zu toppen: Grausamere Fallen, mehr Hysterie, mehr Blut, unglaublichere Twists und noch mehr Opfer. Wo Wan im Erstling die Schnittgewitter noch hauptsächlich suggestiv einsetzte - zum Beispiel, als die Polizei die Geschehnisse in einer der Jigsaw-Fallen rekonstruiert - haut Bousman fast regelmäßig auf den Adrenalinknopf, um die Panik der Figuren auch auf den Zuseher zu übertragen. Das funktioniert zwar durchaus effektiv, opfert aber dafür auch die gewisse Unberechenbarkeit des Vorgängers: Wo wir dort nie ganz wußten, wie weit der Film gehen würde, ist hier der Erzählmodus sehr schnell klar - und fühlt sich damit trotz intensiverer Blutbäder weitaus sicherer an.

Verloren geht dabei leider auch ein wenig die boshafte Relevanz, die Jigsaw seinen Fallen im ersten Teil noch gab: Sein "Test", den das Opfer bestehen mußte, spiegelte auf gewisse Weise das "Vergehen" wider, dessen er seine Mitmenschen beschuldigte; mit der jeweiligen Lösung wollte er den Opfern gewissermaßen eine Lehre erteilen. In SAW II ist zwar der Sadismus der Fallen verstärkt - wie in einer Sequenz, wo ein Schlüssel in einem Meer aus Spritzen versteckt ist - aber dafür auch ihre Selbstzweckhaftigkeit. Immerhin: Das "Hauptspiel", nämlich die Auseinandersetzung mit Detective Matthews, in die alle anderen Fallen und Personen hineinspielen, verstärkt die zynische Funktion Jigsaws, die schon im ersten Teil angerissen wurde: Hier wird die Figur zum abgeklärten Menschenkenner, der die Charakterfehler seiner Mitmenschen so gut kennt und sich ihrer so gewiß ist, daß er komplexe Abläufe danach planen kann. Jigsaw ist der Spiegel, der den Menschen die Fehler zeigt, die sie unaufhaltbar ins Verderben führen.


Die Komplexität von Jigsaws Plan ist es allerdings auch, die die SAW-Geschichte mit diesem Teil weit mehr in Richtung des Phantastischen führt, als das noch im ersten Part der Fall war. Der Killer hält hier so viele Fäden in der Hand, daß seine Fähigkeiten weit ins Übermenschliche gehen; jeder Handgriff und jede Reaktion ist als Teil seines Spiels schon vorhergesehen. Es steigert das fatalistische Element der Erzählung - das ja einhergeht mit seiner absoluten Gewißheit, daß wir immer das Falsche tun werden - erfordert aber gleichzeitig auch, daß wir die Plausibilität des Gezeigten stärker ignorieren. Daß das nicht immer reibungslos funktioniert, liegt leider auch daran, daß die Figuren immer mal wieder der Drehbuchkonstruktion folgen müssen: Wenn die Polizei nach einer Stunde in Jigsaws Büro vom Killer selbst den Hinweis bekommt, seine Schreibtischschublade zu öffnen (in der sich eine Akte befindet, die die Identität der im Haus gefangenen Opfer klärt), fragt man sich doch, ob die Spezialeinheit ihre Ausbildung in Kommandant Lassards Police Academy genossen hat.

Rückblickend betrachtet ist es vor allem interessant, wie SAW II als Brücke zwischen dem Erstling und den weiteren Fortsetzungen fungiert: Er zeigt schon den Ansatz, die geschickt suggerierten Bluttaten des Erstlings weitaus deutlicher zu zeigen, obwohl sich die Reihe erst ab Teil 3 wirklich zur Splatter-Sause wandelte. In der Handlung ist er fast geradliniger als der erste, der ja chronologisch ein wenig herumsprang, und zeigt noch nicht die ebenso im dritten Teil aufblühenden Ansätze, den Plot wie ein Puzzlespiel durch zusätzliche Informationen und Rückblenden und Kontextveränderungen immer dichter zu verzahnen. Bousmans Inszenierung dagegen beinhaltet in seiner stakkatohaften Videoclipästhetik schon alles, was auch die weiteren Fortsetzungen auszeichnen sollte.


Damit funktioniert SAW II also eigenständiger als die späteren Fortsetzungen, während er auch als Zwischenstufe in der Entwicklung der Reihe angesehen werden kann. Den verstörenden Effekt des Erstlings kann das Sequel fast zwangsläufig nicht rekonstruieren - aber dennoch schafft es der Film, die mit der Jigsaw-Figur angelegte Grundidee gewissermaßen im Sinne des Erfinders weiterzutragen.




Saw II (USA 2005)
Regie: Darren Lynn Bousman
Drehbuch: Leigh Whannell, Darren Lynn Bousman
Kamera: David A. Armstrong
Musik: Charlie Clouser
Darsteller: Tobin Bell, Shawnee Smith, Donnie Wahlberg, Erik Knudsen, Franky G, Glenn Plummer, Emmanuelle Vaugier, Beverley Mitchell, Tim Burd, Dina Meyer, Lyriq Bent

LARRY CROWNE: Inspiration als Behauptung

$
0
0

Es steckt ein Vakuum in der Mitte von LARRY CROWNE, der zweiten Regiearbeit von Tom Hanks, und dieses Loch wird immer sichtbarer, je länger der prinzipiell durchaus liebenswerte Film läuft. Da verliert der titelgebende Held, ein Mann Mitte 40 (Tom Hanks), plötzlich seinen Job im Supermarkt, weil er nie eine Universitätsausbildung genossen hat, und weil er anderswo auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen hat, geht er auf ein Community College - eine Art Berufskolleg. Dort belegt er unter anderem den Kurs "Freies Sprechen" bei Mrs. Tainot (Julia Roberts), einer frustrierten Lehrerin, die in einer freudlosen Ehe festsitzt und ihre Perspektivenlosigkeit mit starkem Alkohol betäubt. Es ist wohl kaum zuviel verraten, daß beide einander helfen können und sich dabei auch ineinander verlieben. "Ihr Kurs hat mein Leben verändert", sagt Larry Crowne gegen Ende. Das Problem: Wir haben das nicht gesehen.

Tainots Kurs besteht daraus, daß die nicht sehr zahlreich vorhandenen Studenten kurze Präsentationen über zumeist banale Themen halten müssen. Unklar bleibt bis zum Filmende, was ihre Studenten eigentlich lernen: Tainot sitzt hinten im Raum und verbirgt ihren Kater gerne mal hinter einer großen Sonnenbrille, die Studenten plappern vorne merkwürdigen Flausch und ernten dafür genervte Reaktionen von ihr. Später, nachdem sie einen gewissen Ehrgeiz wiederentdeckt hat, sehen wir sie einmal mit den Studenten eine Sprechübung machen wie beim Theater - Zungenbrecher zur Auflockerung - aber der restliche Kurs läuft wie gehabt ab. Irgendwie will uns der Film aber gegen Ende vermitteln, daß Mrs. Tainot in der Reihe inspirierender Lehrerfiguren gleich neben John Keating aus dem CLUB DER TOTEN DICHTER stehen kann - dabei wäre ihr Kurs bestenfalls dazu geeignet, Gedanken über einen Studienwechsel zu inspirieren.


Auch der Rest der Geschichte verdammt die Aussage, der Kurs sei lebensverändernd, zur bloßen Behauptung: Larrys Leben wurde durch vieles verändert, nur nicht durch Tainots Kurs. Er schreibt sich an der Uni ein, tauscht sein teures Auto gegen einen benzinsparenden Motorroller ein, entdeckt durch einen Wirtschaftskurs verborgene Talente, um sein Schicksal wieder selber in die Hand nehmen zu können, erhält durch einen Freund die Gelegenheit, als Koch arbeiten zu können, und lernt am College die junge Studentin Talia kennen, die ihn ins Herz schließt und ihm wie in einem privaten Weltverbesserungsprojekt Kleidung, Frisur, Wohnungseinrichtung und Sozialleben verbessert. Tainots Kurs gibt seinem Leben nichts - wir sehen nie, wie er etwas aus dem Kurs zur Veränderung seines Lebens anwenden kann. Eigentlich ist es Larry, der Tainots Leben verändert: Sie will wieder mit Energie unterrichten, entsagt dem Alkohol und setzt ihren Loser von Ehemann vor die Tür. Vielleicht gibt sie ihm deswegen eine Eins Plus auf den Schlußtest.

Weil wir das Weltbewegende am Kurs also nie sehen und Tainot auch privat wenig Interessantes beizusteuern hat, ist es nicht ganz nachvollziehbar, wieso sich Larry in sie verliebt - vielleicht, weil sie aussieht wie Julia Roberts. An einem Abend nimmt er die schwer alkoholisierte Frau auf dem Motorroller mit nach Hause, nachdem sie sich mit ihrem Mann gezofft hat, und sie küsst ihn - aber warum diese doch eigentlich eher nach Verzweiflung wirkende Zuneigung der Grundbaustein für eine zukunftsträchtige Beziehung sein soll, der Larry zum Jubilieren bringt, bleibt in eben jenem Vakuum verborgen, das wie ein blinder Fleck im Herzen des Films existiert und irgendwann so auffällig groß wird, daß man es nicht mehr ignorieren kann.


Das ist schade, weil der Film drumherum eine durchaus charmante Angelegenheit ist. Die eigentlich ernste Realität des Arbeitsplatzverlustes wird hier ganz optimistisch aufgegriffen - es geht nicht darum, wie unfair das Leben sein kann, sondern darum, daß es nie zu spät für Änderungen ist und man sich durchaus auf neue Möglichkeiten einlassen soll. Zu diesem Ausblick paßt die Tatsache, daß LARRY CROWNE in einer freundlicheren Alternativversion unserer Welt zu spielen scheint: Hier darf der kauzige Nachbar jeden Tag einen gigantischen Flohmarkt mit exorbitanten Preisen vor seinem Haus abhalten, eine attraktive Studentin darf eine sofortige Freundschaft mit unserem etwas schlurfigen Helden eingehen, und eine Gruppe von jungen Motorroller-Enthusiasten darf den Protagonisten herzlich aufnehmen und ihre Zeit mit dem Abklappern von Second-Hand-Geschäften verbringen.

Gerade den Nebenfiguren tritt die Geschichte mit einer gewissen Herzlichkeit entgegen, und so bleibt LARRY CROWNE ein amüsanter Film mit fröhlicher Gesinnung. Es ist nur schade, daß alles an der einen Sache aufgehängt wird, die schlichtweg unausgefüllt bleibt: Mit einer Überarbeitung des merwürdigen Kurses und einer Ausarbeitung der Figur der Lehrerin hätte die angeblich inspirierende Lehrveranstaltung womöglich sogar aus LARRY CROWNE einen inspirierenden Film gemacht.




Larry Crowne (USA 2011)
Regie: Tom Hanks
Buch: Tom Hanks, Nia Vardalos
Kamera: Philippe Rousselot
Musik: James Newton Howard
Darsteller: Tom Hanks, Julia Roberts, Gugu Mbatha-Raw, Bryan Cranston, Cedric the Entertainer, Taraji P. Henson, Rita Wilson, George Takei, Holmes Osborne, Pam Grier

ESCAPE PLAN: Der Kampf gegen den Fortlauf der Zeit

$
0
0

Man wird das Gefühl nicht los, daß ESCAPE PLAN ungefähr 25 Jahre zu spät die Kinos erreicht: In den Achtzigern wäre es ein Knüller gewesen, zwei der größten Actionstars der Welt, die im Alleingang schon so oft die Welt vehement nach ihrer Vorstellung geformt haben, im Team zu sehen und ihren (freilich eher medial inszenierten als in realitas vorhandenen) Wettstreit um die Krone des Brachialkinos in ein passend geschmiedetes Vehikel zu lenken. Nun schreiben wir aber mittlerweile das Jahr 2014, und da fühlt sich die pure Präsenz dieser beiden mittlerweile alten Männer wie eine Nostalgieveranstaltung an: Wir sehen zwei gerngesehenen Helden vergangener Tage dabei zu, wie sie weniger gegen Schurken und finstere Gesellen kämpfen, sondern vielmehr den Fortschritt der Zeit zu bezwingen versuchen. Derweil schaffen sie es noch, aber wir sehen schon, daß sie diesen Kampf irgendwann verlieren werden.

Sowohl Sylvester Stallone als auch Arnold Schwarzenegger sind mittlerweile dem 70. Lebensjahr näher als dem 60., und beide haben ihre glorreichsten Kinotage schon hinter sich: Actionstar ist eben kein Job, dem man lebenslang nachgehen kann. Nun haben aber beide schon immer Menschen gespielt, die im Angesicht wahnwitziger Widrigkeiten umso entschlossener nach vorne schritten; beide haben immer wieder Sturschädel dargestellt, deren Welt gar nicht anders kann, als sich ihrem Willen zu beugen. Es paßt also irgendwie, daß diese beiden harten Burschen nun mit ebensolcher Hartnäckigkeit dem physischen Körperkino treu bleiben: Es ist, als wollten sie uns mit jedem neuen Film beweisen, daß 67 bzw. 66 einfach noch kein Alter ist für einen Actionruhestand.


Stallone scheint dabei der besessenere zu sein: Seit seinem Comeback mit JOHN RAMBO und ROCKY BALBOA - letzterer tatsächlich eine kluge Geschichte über das Altwerden - scheint der Mann im Fitneßstudio zu wohnen und sich den Körper aufzupumpen, um ja jede Spur der fortschreitenden Zeit auszumerzen. Das Gesicht kann er mittlerweile weniger bewegen als Mickey Rourke, die Stimme ist nurmehr ein halbartikuliertes Grummeln aus dem Keller, aber die Kraft ist sichtbar, die Präsenz spürbar, und die Geschichten um ihn herum sind exakt die Stories, die früher mit ihm als Star ein Kinoevent waren und ohne ihn in der Videothek gelandet wären. Schwarzenegger scheint dem Prozeß etwas gelassener gegenüberzustehen: Die Falten machen diesen Maschinenmenschen richtiggehend menschlich, und mit einem gewissen Schalk im Nacken spaziert er wie ein dezent überholtes Modell durch altbekanntes Terrain. Seine anstehenden Projekte zeigen, daß auch bei ihm vor allem Chronos der Krieg erklärt wird: Es bahnen sich Fortsetzungen zu TERMINATOR, CONAN und TWINS an.

Mit ESCAPE PLAN raufen sich diese beiden Traditionsmarken also zusammen und kämpfen sich durch einen Film, der früher mit Dolph Lundgren und Michael Dudikoff besetzt worden wäre: Es ist eine Gefängnisausbruchssause, die versiert alle anderen Gefängnisausbrüchssausen der Filmgeschichte abklappert und dabei gar nicht vorgibt, irgendwie ihr Genre transzendieren zu wollen. Stallone spielt einen Profi namens Ray Breslin, der sich undercover in Gefängnisse einschleusen läßt, um mittels eines Ausbruchs Schwachstellen in ihren Sicherheitssystemen aufzuzeigen. Als er einen Job für einen neuen Hochsicherheitstrakt annimmt, muß er feststellen, daß man ihn aus dem Weg schaffen wollte - also tut er sich mit dem Häftling Rottmayer (Schwarzenegger) zusammen, um dem angeblich ausbruchssicheren Gefängnis zu entfliehen.


Der Film lebt von der vertrauten und immer noch sympathischen Präsenz der beiden Hauptdarsteller - fast zwangsläufig, da er sonst nicht viel hat, wovon er leben könnte: Die Geschichte ist Standardware, die Dialoge könnten aus anderen Filmen zusammengesampelt worden sein, die Twists sind bemüht und ergeben nicht viel Sinn, und die Action ist exakt das, was man sonst in jedem B-Movie geboten kriegt, nur etwas teurer inszeniert. Das funktioniert alles über die Laufzeit von knapp zwei Stunden, weil es über Jahrzehnte hinweg wie eine Maschine erprobt und eingesetzt wurde. Wo früher nicht mehr taufrische Charakterköpfe wie Lee Van Cleef, Donald Pleasence und Ernest Borgnine in Nebenrollen besetzt worden wären, dürfen heute andere talentierte Menschen antreten, die keine Hauptrollen mehr kriegen: Jim Caviezel, Sam Neill und Vincent D'Onofrio.

Stallone und Schwarzenegger schlagen sich gut im Prozedere - vermutlich, weil sie genau das machen, was sie eh schon immer gemacht haben. Somit sind die beiden Altstars hier auch etwas kurios anzusehen: Sie machen das, was sie vor dreißig Jahren gemacht haben, und sehen dabei aber dreißig Jahre älter aus. Stallone nuschelt, Schwarzenegger wirkt wie ein Bär, und sie beschwören, so gut es eben geht, die Glanzzeiten wieder herauf. Einige Jahre lang werden sie das noch machen können, irgendwann werden sie den Kampf nicht mehr antreten können. Und so nett es ist, die beiden in ihrer Berufsjugendlichkeit agieren zu sehen: Ich wünschte mir, sie würden bald mal damit anfangen, erwachsen zu werden.




Escape Plan (USA 2013)
Regie: Mikael Håfström
Buch: Miles Chapman, Jason Keller
Kamera: Brendan Galvin
Musik: Alex Heffes
Darsteller: Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger, Jim Caviezel, Faran Tahir, Amy Ryan, Sam Neill, Vincent D'Onofrio, Vinnie Jones, Curtis "50 Cent" Jackson

MIT SCHIRM, CHARME UND MELONE: Holprige Erzählung in häppchenweiser Inszenierung

$
0
0

Es ist schwer, einen Film aus dem Jahr 1998 zu finden, der schlechter weggekommen ist als die starbesetzte Kinoauflage der alten britischen TV-Kultserie MIT SCHIRM, CHARME UND MELONE. Damals bestritten Patrick Macnee und Diana Rigg mit unaufgeregter Eleganz und viel Selbstironie absurde Spionageabenteuer, während sie sich süffisante Bonmots zuwarfen. Die Kinoversion, die dreißig Jahre nach Ende der Serie die AVENGERS (wie sie im Original heißen) in die Gegenwart holen sollte, zeigte schon im Vorfeld Probleme: Die ursprüngliche Schnittfassung von Regisseur Jeremiah Chechik wurde um über zwanzig Minuten gekürzt, der Film selber der Presse vorab nicht gezeigt - selten ein gutes Zeichen. Nach dem Start erntete MIT SCHIRM, CHARME UND MELONE fast ausnahmslos vernichtende Kritiken und ging an der Kinokasse hoffnungslos unter. Was ging da schief? Eine ganze Menge.

Fangen wir mit der Geschichte an. Die ist pure Comic-Phantasie und darf es im Geiste der Serie auch sein: Der exzentrische Meteorologe Sir August de Wynter (Sean Connery) hat eine Maschine erfunden, mit der er das Wetter kontrollieren kann - und erpreßt mit der Androhung von Stürmen und neuer Eiszeit die britische Regierung, die ihre zwei Agenten John Steed (Ralph Fiennes) und Dr. Emma Peel (Uma Thurman) auf die Jagd nach de Wynter schickt. So weit, so gut - nur daß die Story erzählerisch derart holprig aufgezogen wird, daß die Figuren und ihre Motivationen komplett schwammig bleiben und selten nachvollziehbar ist, wohin unsere Helden gerade unterwegs sind und aus welchem Grund. Da statten Steed und Peel Sir de Wynter anfangs noch einen Höflichkeitsbesuch ab und befinden sich wenig später im erbitterten Kampf gegen ihn - der Mittelteil, in dem beide verstehen, daß er ihr Gegenspieler ist, scheint irgendwie zu fehlen. De Wynter trommelt einige Wissenschaftler für seinen Plan zusammen, von denen er zwei unwillige kurzerhand umbringt - aber später tauchen diese Helfer nie wieder in relevanter Form für die Geschichte auf. Nicht selten fühlt sich der Fortlauf des Plots so an, als wäre man kurz eingenickt und müßte sich nach dem Aufwachen selber zusammenreimen, warum da plötzlich auf einem Heißluftballon gekämpft wird.


Einige dieser Lücken lassen sich vermutlich mit den schweren Kürzungen erklären, die das Studio nach einer katastrophalen Testvorführung verordnen ließ: Von ursprünglich knapp zwei Stunden wurde der Film auf unter neunzig Minuten (inklusive Vor- und Abspann!) zurechtgestutzt. Die Verstümmelungen sind der fertigen Version an diversen Stellen noch anzumerken: In einer Szene beispielsweise wird Steed von einer Doppelgängerin von Peel niedergeschlagen und angeschossen; nach einer schlichten Überblendung, wie sie sonst nirgends im Film eingesetzt wird, wacht er auf dem Sofa bei der richtigen Mrs. Peel wieder auf, die eigentlich eben noch mit de Wynter geredet hat. Anderswo explodiert beispielsweise aus komplett unerfindlichem Grund das Auto von Mrs. Peel, und weil die Gründe dafür offenbar der Schere zum Opfer fielen, gibt es einen komplett unmotivierten Schnitt auf eine Nahaufnahme der Explosion. Allerdings läßt das Ausmaß an pseudoexpositorischem Dialog und das vorhandene Material - wie beispielsweise das Finale - auch nicht darauf schließen, daß die lange Fassung eine erzählerisch völlig runde Sache gewesen zu sein scheint.

Noch weitaus problematisch ist die Inszenierung selber: Trotz üppiger Ausstattung von Stuart Craig (der zuvor an Filmen wie GANDHI und DER ENGLISCHE PATIENT arbeitete und später die gesamte HARRY-POTTER-Reihe betreute) und erfahrener Kameraarbeit von Roger Pratt (der unter anderem die Bilder für Terry Gilliams BRAZIL und 12 MONKEYS sowie für Tim Burtons BATMAN einfing) ist das Mise en Scène von Chechik zum Sterben langweilig. Sämtliche Szenen sind in den klassischsten Einstellungen aufgelöst, die man sich ausmalen könnte; da wird kein Raum geschaffen oder ausgenutzt und kein Leben generiert. Es ist beinahe passend, daß Chechik nach dem Fehlschlag dieses Films zum Fernsehen abwanderte: Die Ansammlung von banalen Halbnahen und Nahaufnahmen und die permanenten Schuß-Gegenschuß-Auflösungen vermitteln nie das Gefühl eines Kinoereignisses. Dazu kommt, daß die aneinandergereihten Bilder stets wirken, als könnte uns die Inszenierung nicht mehrere Geschehnisse pro Einstellung zumuten: Alles ist wie in kleinen Häppchen präsentiert. Hier ist Person A, die sagt X. Hier ist jetzt Person B, die sagt Y. Hier ist wieder A und lacht. Hier sehen wir jetzt eine Tür, die geöffnet wird. Hier sehen wir jetzt B, wie er sich umdreht. Hier sehen wir C, wie er durch die Tür kommt. Und so weiter. Was immer die herausoperierten Szenen zeigen mögen - man muß davon ausgehen, daß sie ebenso unelegant alle Ereignisse einzeln buchstabieren.


Diese Aufdröselung in Einzelschritte hat natürlich auch fatale Auswirkungen auf die Chemie zwischen den Darstellern. Die augenzwinkernden Wortgefechte zwischen Steed und Peel kommen schon alleine deswegen nie auf Touren, weil uns der Film erst den einen zeigt, wie er dies sagt, und dann auf die andere schneidet, wie sie jenes erwidert - und das geht beliebig in dem Stil weiter. Aber auch ein anderes Problem zeichnet sich bei den Dialogen ab: Im dauerironischen Modus werden verdrehte Sätze geäußert, deren Wortwitze mitunter an den ähnlich kalauernden BATMAN & ROBIN denken lassen. Fiennes und Thurman mühen sich ab, die Texte natürlich klingen zu lassen und den Witz beiläufig zu gestalten, aber freilich wirken sie bei derart künstlichem Material selber ebenso artifiziell - um das aufzufangen, hätte es entweder einer viel stilisierteren Inszenierung bedarft oder eben einer weitaus lebendigeren.

Es ist schade, daß der Film in seinem Kern so problematisch ist, da er eigentlich einige Reize bieten könnte. Hier und da schimmert die Absurdität der Vorlage durch - beispielsweise in einer herrlich schrägen Szene, in der sich Connery mit den Wissenschaftlern trifft und alle ganz selbstverständlich zur Tarnung gigantische Teddybärenkostüme in knallbunten Farben tragen. Auch ein paar surreale Momente funktionieren, wie eine Escher-artige Treppe, die Thurman wieder zum Ausgangspunkt zurückbringt. Und die merkwürdigen Dialoge und schrulligen Witze (zum Beispiel die Tatsache, daß der Chef des Geheimdienstes "Mother" heißt, während seine Partnerin "Father" genannt wird) hätten ebensogut funktionieren können, wenn der Film den Tonfall richtig hinbekommen hätte.


Jetzt aber genug der kritischen Worte, werfen wir noch eine ganz unwissenschaftliche Randnotiz ein: Uma und ihre Outfits. Von wegen mißlungener Film! Wenn man wie ich veranlagt ist, erkaufen ein paar Momente von Uma Thurman im eindrucksvoll engen Lederkostüm immer wieder einige Minuten Wohlwollen - ebenso wie eine Szene, in der Ralph Fiennes ihr langsam die signalroten Stiefel ihres nicht minder knallroten Overalls auszieht. Falls der verschollene 25 Minuten längere Director's Cut des Films exakt hier ansetzt, überdenke ich nochmal alle unschönen Worte, die ich über die Inszenierung verloren habe. Versprochen.




Mit Schirm, Charme und Melone (USA 1998)
Originaltitel: The Avengers
Regie: Jeremiah Chechik
Buch: Don MacPherson
Musik: Joel McNeely
Kamera: Roger Pratt
Darsteller: Ralph Fiennes, Uma Thurman, Sean Connery, Jim Broadbent, Patrick Macnee, Fiona Shaw, Eddie Izzard, Eileen Atkins, John Wood, Carmen Ejogo, Keeley Hawes

STATIC: Ein Twist um ein zentrales Nichts

$
0
0

STATIC ist das beste Beispiel dafür, daß das Handwerk nichts nützt, wenn es nichts zu erzählen gibt. Es ist ein Einbruchsthriller, bei dem ein zurückgezogen lebendes junges Ehepaar von seltsamen maskierten Gestalten im eigenen Haus terrorisiert wird - und als solcher ist er natürlich auf eine gewisse mechanische Weise spannend, weil die Vorstellung, daß finstere Männer in die Sicherheit der eigenen vier Wände eindringen wollen und es wohl nicht nur auf das Tafelsilber abgesehen haben, eine gewisse Grundangst anspricht. Oberflächlicher filmischer Thrill ist ebenso einfach wie wirksam, wenn man einen Mann mit Gasmaske durchs Fenster schauen läßt.

Und so läßt Regisseur Todd Levin zusammen mit gleich drei weiteren Drehbuchautoren die gruseligen Gesellen antanzen und strickt drumherum nur ein Mindestmaß an Geschichte: Die angegriffenen Eheleute leben in der Abgeschiedenheit, weil ihr dreijähriger Sohn vor einiger Zeit ertrunken ist. Sie flüchtet in den Alkohol, er in die Arbeit an seinem neuen Roman. Und eines Nachts steht eine blonde junge Frau vor der Tür, die von maskierten Kerlen verfolgt wird - aber offenbar auch irgendwie mit denen in Verbindung steht. Viel mehr Story kommt nicht: Ab jetzt werden Treppen herauf- und heruntergeschlichen, unsere Helden verstecken sich in diesem Zimmer und in jener Ecke, lauschen mit angehaltenem Atem den knarzenden Schritten der Eindringlinge, rennen hierhin und flüchten dorthin.


Levin inszeniert den Angriff atmosphärisch recht dicht und kann damit den Zuseher eine ganze Zeitlang bei der Stange halten. Durch den Minimalismus der Prämisse und die flach gezeichneten Hauptfiguren ist das Prozedere nicht wahnwitzig involvierend, aber durchaus eine Zeitlang ganz spannend. Nur ahnt man mit fortschreitender Zeit immer mehr, daß da auf erzählerischer Ebene nicht mehr passieren wird, daß das Mystery-Element um die geheimnisvollen Fremden nicht auf interessante Inhalte, sondern auf einen Schlußtwist hinauslaufen wird. Der kommt und geht und hinterläßt nichts, was die Geschichte in irgendeiner Weise anreichert.

Es ist ein Fluch des modernen Spannungskinos, daß Stories fast zwanghaft auf einen Twist hinauslaufen müssen: Selten ist diese Umkehrung des bisher Gesehenen wirklich schlüssig, und noch seltener eröffnet sie einem tatsächlich neue Perspektiven. Mal abgesehen davon, daß die Überraschungen in Genrefilmen mittlerweile schon so gründlich durchdekliniert wurden, daß sie schlichtweg keine Überraschungen mehr darstellen - der Schlußtwist von STATIC erinnert gleich an mindestens ein halbes Dutzend anderer Filme, die dasselbe Kaninchen aus dem erzählerischen Hut hervorholten - offenbart eine solche narrative Konstruktion in den meisten Fällen doch nur, daß es einmal mehr um gar nichts ging. Die Enthüllung am Ende erzählt uns nichts über die Figuren, reißt keine ambivalenten Fragen an und bietet keine Auseinandersetzung mit dem Kern der Geschichte - was im Falle von STATIC freilich daran liegt, daß hier gar kein Kern jenseits der Aneinanderreihung von Bedrohungen existiert.


Was bleibt also? Ein durchaus dicht gestalteter Spannungsfilm, dessen zentrales Nichts im Laufe der recht kurzen Dauer immer offensichtlicher wird, und der fast zwangsläufig auf die Enttäuschung zusteuert. Das mag für einen Abend der Zerstreuung vielleicht sogar genug sein. Aber wenn man sich mal vor Augen hält, was ein Film wie WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN aus der Prämisse des Ehepaares holt, das sich mit dem Tod des Kindes auseinandersetzen muß, und wie dort das Konzept der Schicksalhaftigkeit ausgelotet wird - ebenso mit Schlußtwist, aber einem, der nicht abschließend alles sortiert, sondern weitere Fragen aufwirft - dann bleibt von STATIC eigentlich nur das, was der Titel suggeriert: Rauschen am Bildschirm.




Static - Bewegungslos (USA 2012)
Originaltitel: Static
Regie: Todd Levin
Drehbuch: Gabriel Cowan, Andrew Orci, John Suits, Todd Levin
Kamera: Johnny Ching
Musik: Tim Ziesmer
Darsteller: Milo Ventimiglia, Sarah Shahi, Sara Paxton, William Mapother, Dominic Bogart

OPERATION OLYMPUS - WHITE HOUSE TAKEN: Boll und das Basishandwerk

$
0
0

2013 wurden gleich zwei großangelegte Anschläge auf das Weiße Haus verübt: Erst attackierte Antoine Fuqua in OLYMPUS HAS FALLEN den amerikanischen Regierungssitz, danach demolierte Roland Emmerich in WHITE HOUSE DOWN die Präsidentschaftsbude. An welchem Film orientiert sich also nun der etwas preiswerter produzierte OPERATION OLYMPUS - WHITE HOUSE TAKEN? Richtig: An gar keinem von beiden. Der von Cineastenschreck Uwe Boll inszenierte B-Thriller heißt im Original schlicht SUDDENLY und ist ein Remake eines gleichnamigen Films aus dem Jahr 1954, in dem Frank Sinatra zusammen mit zwei anderen Männern einen Anschlag auf den US-Präsidenten plante. Welches Haus wird nun also in OPERATION OLYMPUS - WHITE HOUSE TAKEN im Zuge dieses Attentats besetzt? Richtig: Ein Einfamilienhaus in einer amerikanischen Kleinstadt, von dem aus man die Hauptstraße überblicken kann. Im Weißen Haus könnte ja jeder drehen.

In dieser Kleinstadt kommt also der Präsident zu Besuch, um vor der versammelten Einwohnerschaft von 20 Statisten Wahlwerbung zu machen. Eine kleine Gruppe von Secret-Service-Agenten plant allerdings die Ermordung des Staatsoberhaupts, das zwar wie Obama aussieht, aber dem trotzdem vom Anführer der Schurken ein sinnloser Irakkrieg vorgeworfen wird. In dem Haus, das die Attentäter besetzen, wohnt eine junge Frau mit ihrem Sohnemann und ihrem Papa, und alle drei werden als Geiseln genommen, weil die unzufriedenen Staatsdiener keine zivilen Verluste schaffen wollen. Später kommt noch der dezent alkoholisierte Cop Todd Shaw dazu, der im Kampf gegen die böse Bande endlich wieder ein Held sein darf.


Man glaubt es kaum, aber die Zusammenfassung der Geschichte - eigentlich nur eine Anhäufung müder Klischées und filmischer Allgemeinplätze - klingt immer noch spannender, als der Film es einlösen kann. Ignorieren wird einmal die Tatsache, daß die Verbindung zu den White-House-Krachern von Fuqua und Emmerich nur vom deutschen Verleih zusammenfabuliert wurde - als Thriller ist dieses Filmchen so oder so eine komplett banale Angelegenheit. Es gibt hier nichts zu sehen, das nicht anderswo schon aufregender durchexerziert worden wäre.

Angesichts des Rufs, den der Regisseur des Films genießt, liegt natürlich die Vermutung nahe, daß der Film von einer inkompetenten Inszenierung versenkt wird - aber das ist gar nicht der Fall: Es ist die Tatsache, daß sich die Inszenierung durch rein gar nichts auszeichnet, die SUDDENLY so unaufregend macht. Es ist kaum ein Kompliment, nur konstatieren zu können, daß die Bilder aneinanderpassen, daß sie ohne Ausfälle das zeigen, was gezeigt werden muß, und daß die Schauspieler durch sie hindurchlaufen, wie es sich gehört: Daß da Basishandwerk vorhanden ist, ist ja eigentlich nur erwähnenswert, weil Boll so gerne zum Stümper vom Format eines Ed Wood hochstilisiert wird.


Aber kein Bild ist je interessant, keine Inszenierungsidee je kreativ, kein Moment je mehr als eine Erinnerung an bessere Ausführungen in anderen Filmen. Boll und sein Kameramann Brendan Uegama filmen in uninteressant ausgeleuchteten Einstellungen das Geschehen ab, ohne auch nur eine Sekunde lang visuelle Spannungen zu erzeugen, die aus der Standardstory wenigstens etwas Oberflächenthrill herausgeholt hätten.

SUDDENLY hat nichts wirklich Gutes und nichts wirklich Schlechtes. Er läuft eben so vor sich hin. Er ist ansehbar - was ebenfalls kaum als Kompliment durchgehen kann. Man springt ja auch nicht vor Begeisterung hoch, wenn ein Romanautor die Formulierung grammatikalisch korrekter Sätze beherrscht.




Operation Olympus - White House Taken (Kanada/USA 2013)
Originaltitel: Suddenly
Regie: Uwe Boll
Drehbuch: Raul Inglis
Kamera: "B. Uegama" (= Brendan Uegama)
Musik: Stu Goldberg
Darsteller: Ray Liotta, Erin Karpluk, Dominic Purcell, Michael Paré, Tyron Leitso, Don MacKay

OHNE KRIMI GEHT DIE MIMI NIE INS BETT: Von Beziehungsbrüchen und Ersatzbefriedigungen

$
0
0

Es ist eines der einprägsamsten und gleichzeitig ernüchterndsten Beziehungsbilder des klassischen deutschen Schlagers: Die lesebesessene Ehefrau geht jeden Abend pünktlich um halb zehn ins Bett, um sich ihren geliebten Krimis zu widmen, und dem vernachlässigten Ehemann bleibt nur der Suff. "Mimi hat den Krimi und die Interpol, und ich den Alkohol", konstatierte der Amerikaner Bill Ramsey in seinem mit hübsch gerolltem "r" vorgetragenen Song, und mittendrin ist noch der vielleicht viel größere Vorwurf, daß Mimis Lektüre nicht nur wegen brennender Nachttischlampe den Schlaf stört, sondern auch statt der Bildung die pure Ersatzlust zum Ziel hat: "Keinen Goethe, keinen Schiller holt sie aus dem Schrank heraus / Nein, einen superharten Thriller sucht sich Mimi aus". Da soll noch einer behaupten, im Schlager würden keine Tragödien behandelt werden.

Was hat dieses heiter besungene Ehedrama nun mit dem gleichnamigen Film von Österreichs vielleicht fleißigstem Unterhaltungsfilmer Franz Antel zu tun? Ganz einfach: In der - seien wir großzügig: - Rahmenhandlung klagt Ramsey als frustrierter Ehemann im Playback sein Leid, während Ehefrau Edith Hancke es sich im Bett mit ihrem neuen Buch bequem macht. Die eigentliche Handlung des Films ist gewissermaßen die Bebilderung ihrer Lektüre, und wir verraten wohl kaum zuviel, daß es sich bei OHNE KRIMI GEHT DIE MIMI NIE INS BETT keinesfalls um einen "superharten Thriller" handelt, sondern um ein kleines Schlagerlustspiel. Der Verdacht liegt nahe, daß die Geschichte - ein Remake des 1936 entstandenen Films DIE LEUTE MIT DEM SONNENSTICH - zunächst ohne die erzählerische Klammer entstand und dann angesichts des Erfolges von Ramseys einige Monate zuvor erschienenen Single flugs erweitert wurde.


In gewissem Sinne paßt das Liedchen um die Ersatzbefriedigung aber zum Prozedere der tatsächlichen Story, in der viele Menschen ganz im Sinne des Wirtschaftswunders in Italien Urlaub machen und sich dabei im Frust der unerfüllten Wünsche verheddern - allen voran die fesche Stewardess Barbara Holstein (Karin Dor), die mit ihrem Liebhaber, dem Ingenieur Michael Lutz (Peter Vogel), alleine auf die kleine Isola Piccola gefahren ist. Sie möchte gerne von ihm einen Heiratsantrag bekommen, er dagegen interessiert sich primär für's Angeln: Da muß man kein Experte darin sein, wie der kreuzbrave deutsche Unterhaltungsfilm Themen der Sexualität codiert, um zu verstehen, wo bei den beiden das Problem liegt. "Vielleicht, wenn du mal einen oder zwei Tage nicht angeln würdest ...", setzt sie an. Er versteht nicht: "Nicht angeln? Deswegen sind wir doch gekommen!" - "Natürlich, aber vielleicht würdest du dann bemerken, daß du nicht nur mit einer Hausfrau hier bist, sondern auch mit einer Frau." Es hilft nichts: Er gibt ihr einen Schmatzer und wirft dann wieder die Angelrute aus. Ja, Bill Ramsey könnte ein Lied singen über soviel Frust - und hat es ja schon zu Filmbeginn gemacht.

Ebensowenig glücklich ist der Nudelfabrikant Keyser (Heinz Erhardt), der mit seiner erwachsenen Tochter Marion (Ann Smyrner) in derselben Region Urlaub macht. Eigentlich wollte Keyser ja ins Luxushotel und dort die üppige Küche genießen, aber das Töchterlein zerrt ihn auf die Isola Piccola zum Zelten. So sehnsüchtig, wie Keyser die ganze Zeit vom Essen schwärmt, gönnt man es ihm von Herzen, daß er irgendwann einen vom Dauerangler Lutz gefangenen und von Hausfrau Holstein zubereiteten Branzino genießen darf. Aber dann wird den Campern die gesamte Ausrüstung geklaut und das Boot untüchtig gemacht, und Keyser muß von leckeren Frühstücksbrötchen träumen.


Ebenfalls Teil von Keysers kleiner Urlaubsgruppe ist Keysers Angestellter Dr. Steffen (Harald Juhnke), den Keyser bislang erfolglos mit seiner Tochter zu verkuppeln versucht hat. Da helfen alle Behauptungen von Naturliebhaberei und Angelerfolgen nichts: Marion ist höchst unbeeindruckt und interessiert sich vielmehr für den schroffen Lutz, der sich eben mit seiner angelunfreudigen Liebsten überworfen hat. Trotz der schäbigen Behandlung kämpft diese aber weiterhin darum, endlich Frau Lutz zu werden - was den Verdacht nur erhärtet, daß da womöglich nicht das gemeint ist, was man glauben könnte.

Weil Lutz aber eher seine Ruhe haben will, heuert er am Festland einen befreundeten Schlagersänger und dessen Band an, daß sie einen Überfall auf die Campinggemeinde vortäuschen, um diese von der Insel zu vertreiben. Dieser Entertainer wird von Gus Backus gespielt, wie Ramsey eigentlich Amerikaner, und schon zu Beginn gibt er dem Duktus des Films entsprechende Begattungslyrik zum Besten: "Mit dir, mit dir möcht' ich am Sonntag angeln gehen", trällert er und flirtet mit einer blonden Zuhörerin, der er wonnige Wohlgefühle in Aussicht stellt - "Und scheint nachher der Mond / Da merkst du, daß sich's lohnt". Da haben wir es wieder, das leitmotivische Angelerlebnis.


Der Spaßüberfall läuft allerdings schief, weil im Ort eine Gaunerbande ihr Unwesen treibt, die sich vornehmlich im Eigentumstransfer betätigt. Angeführt wird die Gang von der Frau des Polizeipräsidenten (Vollblutitaliener: Trude Herr und Raoul Retzer), die ihrer Diebesclique (angeführt vom ebenso authentischen Alexander Grill) die entsprechenden Hinweise gibt, wo es etwas zu holen gibt. Für ihre Jungs singt sie schwungvoll den "Tango D'Amore", und schon wieder geht es um die Ersatzleidenschaft: Bei der besungenen Liebe handelt es sich ums Klauen. "Wenn ich was zum Stehlen sehe, dann erwacht mein Blut, kribbelt's in den Fingerspitzen mich / Sizilianisch-kleptomanisch wird mir gleich zumut', und dann singe ich", schmettert sie, aber das Vergnügen ist eher kurzer Natur: "Beim Tango D'Amore, das muß man verstehen / Beim Tango D'Amore ist so manches schon geschehen". Vielleicht muß sie stehlen, weil ihr Mann sich dem Alkohol hingibt und als Polizist nichts taugt - aber eventuell besteht die Kausalität ganz im Sinne des Ramsey-Liedes ja auch genau andersherum. So oder so arrangiert die gute Frau, daß die Musiker für ihren vermeintlichen Überfall auf eine ganz andere Insel gefahren werden (wo sie von wehrhaften Touristen verprügelt werden), während ihre Räuber auf die Isola Piccola fahren, wo sie Keyser und seine kleine Campinggruppe ausrauben.

Das liest sich komplexer, als es in Wahrheit ist: Das bißchen Verwechslungsstory ist ja gewissermaßen in der DNA der deutschsprachigen Komödie zu finden, und die Konstellationen, in denen die erholungswilligen Menschen - ob Angelfreunde oder nicht - agieren, wechseln in höchst gemütlichem Tempo. Hier herrscht eben Urlaub und kein Alltagsdruck: Die Sonne strahlt, das Meer ist blau, Heinz Erhardt witzelt, Karin Dor und Ann Smyrner stehen im Bikini umher, manchmal wird geangelt, dann wieder gesungen. Ganz zum Schluß gehen alle Wünsche in Erfüllung: Lutz heiratet endlich seine Barbara (die zuletzt so strahlt, daß man davon ausgehen kann, daß auch ihr jetzt der Mond aufgegangen ist), Marion kann sich für Dr. Steffen erwärmen (der ihr angesichts ihrer schlechten Manieren mit dem Rohrstock gedroht hat, was in ihr offenbar bislang unterdrückte Wohlfühlphantasien ausgelöst hat), und Herr Keyser darf mit Schreibtisch am Strand endlich wieder seinen Geschäften nachgehen (neben ihm eine junge, leichtbekleidete Sekretärin, die ihn sicherlich auch kulinarisch versorgt). Selbst Mimi steckt ihre Enttäuschung darüber, daß es gar kein Krimi war, bestens weg: "Aber trotzdem schön".

Natürlich muß Bill Ramsey in der Schlußreprise seines Hits dann doch wieder zum Alkohol greifen. Er ahnt wohl, daß das Beziehungsglück zwischen einem, der gerne angelt, und einer, die gar keinen Fisch mag, endlicher Natur sein kann.




Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett (Österreich 1962)
Regie: Franz Antel
Buch: Johannes Kai, Hugo Wiener
Kamera: Hanns Matula
Darsteller: Heinz Erhardt, Karin Dor, Harald Juhnke, Ann Smyrner, Peter Vogel, Trude Herr, Gus Backus, Raoul Retzer, Alexander Grill, Hannelore Auer, Elisabeth Stiepl, Edith Hancke, Bill Ramsay
Viewing all 383 articles
Browse latest View live